Wer die bessere Geschichte hat, gewinnt.

»Es passiert so viel« – ein Gespräch

Dr. Henning Scherf und Christoph Poschenrieder
im Gespräch über das Älterwerden


Alten-WG in der Rea­li­tät trifft auf Alten-WG im Roman. Dr. Hen­ning Scherf[1], Bre­mer Bür­ger­meis­ter a.D. und Vor­rei­ter für Haus­ge­mein­schaf­ten im Alter, spricht mit Dio­ge­nes Autor Chris­toph Poschen­rie­der über des­sen Roman Mau­er­seg­ler. In die­ser schwar­zen Komö­die wagen fünf alte Freun­de das Expe­ri­ment des Zusam­men­le­bens. Denn es kommt nicht dar­auf an, wie alt man wird, son­dern, wie und mit wem man alt wird.

Chris­toph Poschen­rie­der: Dr. Scherf, kam ein Alters­heim für Sie je in Frage?

Dr. Henning Scherf (76), Präsident des Senats und Bürgermeister a.D. der Freien Hansestadt Bremen, lebt gemeinsam mit seiner Frau und sechs Freunden seit Jahren in einem Mehrgenerationenhaus – mit der Vereinbarung, sich im Alter gegenseitig zu unterstützen und zu pflegen. Foto: Senatspressestelle Bremen, Anja Raschdorf.

Dr. Hen­ning Scherf (76), Prä­si­dent des Senats und Bür­ger­meis­ter a.D. der Frei­en Han­se­stadt Bre­men, lebt gemein­sam mit sei­ner Frau und sechs Freun­den seit Jah­ren in einem Mehr­ge­nera­tio­nen­haus – mit der Ver­ein­ba­rung, sich im Alter gegen­sei­tig zu unter­stüt­zen und zu pfle­gen. Foto: Senats­pres­se­stel­le Bre­men, Anja Raschdorf.

Dr. Hen­ning Scherf: Nein, obwohl ich jah­re­lang als Sozi­al­se­na­tor für Alters­hei­me zustän­dig war. Je älter ich sel­ber wur­de, umso schwie­ri­ger wur­de mir die­se tra­di­tio­nel­le Ant­wort aufs Alt­wer­den. Ich möch­te, auch wenn ich gebrech­lich wer­den soll­te, mein Leben selbst bestimmen.

CP: Sind Alters-WGs etwas für Bes­ser­ver­die­ner und gut­si­tu­ier­te Rentner?

HS: Gera­de Men­schen mit schma­lem Geld­beu­tel wis­sen, dass gegen­sei­ti­ge Hil­fe, Zusam­men­rü­cken und Tei­len eine Über­le­bens­fra­ge ist. Men­schen mit gro­ßem Geld­beu­tel mei­nen, sie könn­ten sich alles kau­fen, und über­se­hen, dass sie dabei sehr ein­sam wer­den können.
– War­um sie­deln Sie in Ihrem Roman die WG-Grün­der aus­schließ­lich im Ober­schich­ten-Milieu an?

CP: Ich woll­te eine WG von »Macher-Typen«, die es gewohnt waren, die Ansa­gen zu machen. Dra­ma­tur­gisch bedeu­tet die rela­ti­ve (finan­zi­el­le) Sor­gen­lo­sig­keit der fünf Her­ren auch, dass ich eini­ge Neben­the­men igno­rie­ren kann.

HS: Begeis­tert bin ich davon, dass Sie mit Kata­ri­na, der kir­gi­si­schen Pfle­ge­kraft, und den Wai­sen­kin­dern Leben ins Ster­be­quar­tier brin­gen. Wir hier in unse­rem Haus wol­len die­se wun­der­ba­re Erfah­rung nicht einen Tag auf­schie­ben und haben von Anfang an mit immer neu­en Erfah­run­gen das Zusam­men­le­ben mit Kin­dern und Enkel­kin­dern als das größ­te Geschenk unse­res Wohn­pro­jekts gesehen.

CP: So dach­te ich mir das auch. Unter ande­rem auch des­we­gen die­se exklu­si­ve Lage der Alten-WG am See mit Gar­ten –  ide­al für ein Kinderheim …
– Wer hilft, wenn man eine Alters-WG grün­den möchte?

HS: Es gibt in Han­no­ver das Forum für gemein­schaft­li­ches Woh­nen (Hil­des­hei­mer Stra­ße). Die sind mit 22 Außen­stel­len die gemein­nüt­zi­ge natio­na­le Aus­kunfts­stel­le. In vie­len Städ­ten und Land­krei­sen gibt es offi­zi­el­le Ansprech­part­ner. In Ham­burg allein eine gan­ze Abtei­lung beim Bau­se­na­tor. Und inzwi­schen bie­ten Woh­nungs­ge­nos­sen­schaf­ten und ‑gesell­schaf­ten land­auf, land­ab ›Best-Practice‹-Angebote für Wohngemeinschaften.
Auch für Pfle­ge­wohn­ge­mein­schaf­ten gibt es inzwi­schen ein gro­ßes Ange­bot. In Bre­men ver­dop­pelt gera­de die Bre­mer Heim­stif­tung ihre Pfle­ge-WGs von zwan­zig auf vierzig.
– Die Mar­tin-Geschich­te soll die emo­tio­na­le Mit­te der fünf WG-Bewoh­ner sein. Was ist mit den (geschei­ter­ten?) Ehe- und Familiengeschichten?

CP: Mar­tin war ein Kind­heits­freund, der bei einem tra­gi­schen Unfall starb und damit den Zusam­men­halt der fünf WG-Bewoh­ner ihr Leben lang beein­fluss­te. Fünf Män­ner mit fünf Ehe­frau­en oder Part­ne­rin­nen, einer Viel­zahl von Kin­dern und den sich dar­aus erge­ben­den Abhän­gig­kei­ten und Kom­pli­ka­tio­nen sind kaum zu bewäl­ti­gen – jeden­falls nicht in einem Roman von der Län­ge, die ich mir vor­stel­le. Die Moti­ve der Alten sind deut­li­cher her­aus­zu­ar­bei­ten: Die Figu­ren sind sozu­sa­gen Mario­net­ten, und ich will an all den Schnü­ren zie­hen, ohne dass sie sich verwickeln.

HS: Ich habe mit Lust die Grün­dungs­ge­schich­te der WG gele­sen und mich auch immer wie­der in ihren Per­so­nen sel­ber ent­deckt und manch­mal auch unser eige­nes Wohn­pro­jekt. Erst mit der Erwäh­nung des Mau­er­seg­lers (S. 61/62) ist mir klar gewor­den, dass dies ein Ster­be­buch ist. Es hat mich beein­druckt, wie locker Sie die­ses Mensch­heits­the­ma ent­fal­ten. Braucht die Angst vorm Ster­ben statt des weit­ver­brei­te­ten Tabus ein unter­halt­sa­mes, mit Gags ange­rei­cher­tes Ferienparadies?

CP: Ich bin nicht sicher, was es braucht – Tabui­sie­rung aller­dings bestimmt nicht. Mir liegt nicht an der Ver­all­ge­mei­ne­rung des The­mas. Das ist kein The­sen­ro­man, kein ver­klei­de­tes Sach­buch. Die Hand­lun­gen Carls, des Erzäh­lers, sind nicht zur Nach­ah­mung emp­foh­len. Scho­pen­hau­er spricht davon, dass der Tod die ulti­ma­ti­ve Krän­kung des Men­schen ist – also eine Belei­di­gung unse­res Egos. Ich? Wie­so ich? Wie­so jetzt? Wie­so auf die­se Weise?
Ich kann das nach­voll­zie­hen und sehe da Poten­ti­al für eine Komö­die, eine schwar­ze. Klar aber auch, dass manch einer bei solch einem The­ma mehr Pie­tät, mehr Ehr­furcht, mehr Ernst ver­lan­gen mag.
–  Wie haben Sie sich denn für Ihr gemein­sa­mes Wohn­pro­jekt gefunden?

HS: Wir sind wie eine Art Patch­work zusam­men­ge­kom­men. Jeder kann­te einen, der Inter­es­se hat­te, und so haben wir uns über fast vier Jah­re Suchen und Pla­nen (mit gemein­sa­mem Urlaub) gefunden.
– Das Com­pu­ter­pro­gramm »Todes­en­gel« in Ihrem Buch, das den Bewoh­nern gegen­sei­ti­ge und selbst­be­stimm­te Ster­be­hil­fe ermög­licht, wirkt auf mich wie ein mons­trö­ser Deus ex Machi­na. Ster­be­hil­fe wird nun schon seit Jah­ren – ohne Frak­ti­ons­zwang – im Bun­des­tag mit einer Ein­dring­lich­keit und Offen­heit – man ist ver­sucht, dies für Stern­stun­den des Par­la­ments zu hal­ten – erörtert.

CP: Das kann ich hier nicht ganz auf­lö­sen, ohne zu viel über den Gang der Geschich­te zu ver­ra­ten. Dem Pro­gramm wer­den Din­ge anver­traut, die den fünf Her­ren nicht allen bekannt sein sol­len. Ein jeder soll nur das wis­sen, was er wis­sen muss; das Pro­gramm sorgt dafür, dass die rich­ti­ge Infor­ma­ti­on zum rich­ti­gen Zeit­punkt an die rich­ti­ge Per­son gelangt. Eben weil Ster­be­hil­fe hier­zu­lan­de – noch – nicht lega­li­siert ist, jeden­falls nicht in der Zeit, in der die­ser Roman spielt. Im Übri­gen: Die­ses Pro­gramm exis­tiert, ich habe es selbst pro­gram­miert. Die im Roman ein­ge­streu­ten Code­zei­len sind (leicht bear­bei­te­te) Aus­zü­ge daraus.
–  Demenz, Krank­heit, Tod – wie gehen Sie damit in Ihrer WG um?

HS: Demenz hat­ten wir noch nicht. Über fast sie­ben Jah­re haben wir zwei von uns in unse­rer Mit­te gepflegt und ster­be­be­glei­tet (ein­zi­ge Hil­fe: ein nie­der­ge­las­se­ner Arzt in der Nachbarschaft).
Wir haben meh­re­re Krebs­er­kran­kun­gen, zwei Schlag­an­fäl­le und Ersatz­tei­lope­ra­tio­nen erlebt. Die Schwer­hö­rig­keit ist nicht zu über­spie­len: Wir üben mit Hörgeräten.
Ich fin­de sehr ver­dienst­voll, dass Sie in ›Mau­er­seg­ler‹ das Wohn­ge­mein­schafts­the­ma mit Ster­be­be­glei­tung ver­bin­den. Ich lebe und phan­ta­sie­re unser Zusam­men­le­ben als Ent­de­ckung vom Leben im Alter. Es pas­siert so viel. Wir ler­nen von­ein­an­der. Wir ent­de­cken neue Auf­ga­ben. Im Ver­gleich zu mei­nem Poli­ti­kerle­ben kann ich jetzt viel mehr »Leben« anneh­men. Und genau die­se Erfah­run­gen möch­te ich auch in den kom­men­den Jah­ren machen. Das Ster­ben gehört dazu. Aber solan­ge es nicht statt­fin­det, möch­te ich kei­ne Minu­te ver­schen­ken. Das Leben gewinnt für mich, je älter ich wer­de, eine ein­zig­ar­ti­ge Bedeu­tung (mit den vie­len Chan­cen, die noch bis zum Tod auf mich warten).

CP: So sehe ich das auch. Ich hof­fe es. Mei­ne Groß­mutter wur­de hun­dert­drei Jah­re alt. Bis kurz vor ihrem Tod las sie täg­lich die Zei­tung, nahm in hei­te­rer Gelas­sen­heit teil am Leben, wohl wis­send, dass schon lan­ge ande­re an den Hebeln saßen und Din­ge anrich­te­ten, die sie nicht mehr wür­de aus­ba­den müs­sen. Zwi­schen­drin saß sie lan­ge im Ses­sel und gab sich ihren Gedan­ken hin – das waren Rei­sen in Zeit und (vor­ge­stell­tem) Raum. Mit knapp über fünf­zig mer­ke ich auch, dass Lebens­qua­li­tät ein Begriff ist, den man stets mit neu­em Inhalt fül­len muss.
Ist denn mit Ihrer WG im Alter alles so gewor­den, wie Sie sich das vor­ge­stellt hat­ten, oder muss­ten Sie auch Lehr­geld bezahlen?

HS: Wir sind behut­sam vor­ge­gan­gen. Jeder hat sei­nen eige­nen Wohn­teil mit Küche und Sani­tär. Es gibt kei­nen Zwang zum täg­li­chen gemein­sa­men Früh­stü­cken, Mit­tag­essen, Kaf­fee­klatsch und Abend­essen. Wir laden uns gele­gent­lich gegen­sei­tig ein.
Wir hät­ten ger­ne noch mehr Platz zum Abstel­len (zu wenig Kel­ler­räu­me). Wir könn­ten uns auch gut eine jun­ge Fami­lie mit klei­nen Kin­dern vor­stel­len – aber dafür fehlt der Platz.

CP: Die drei wich­tigs­ten Regeln fürs Gelin­gen des Projekts?

Dr. Hen­ning Scherf:
1. Gegen­sei­ti­ger Respekt.
2. Jeder hat sei­ne Marot­ten, und das ist gut so.
3. Wir hel­fen einander.

© by Diogenes Verlag AG Zürich, Kerstin Beaujean
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  1. Dr. Hen­ning Scherf, gebo­ren 1938, war lan­ge Jah­re Sozial‑, Bil­dungs- und Jus­tiz­se­na­tor und von 1995 bis 2005 Bür­ger­meis­ter und Prä­si­dent des Senats der Frei­en Han­se­stadt Bre­men. Er ist ver­hei­ra­tet, hat drei Kin­der und neun Enkel. Vor sei­nem Zusam­men­le­ben in der Alters- und Mehr­ge­nera­tio­nen­haus­ge­mein­schaft sam­mel­te er bereits WG-Erfah­rung: »Auf­ge­wach­sen bin ich in Kriegs­zei­ten in einer kin­der­rei­chen Fami­lie: mei­ne ers­te WG. Als Stu­dent habe ich im Evan­ge­li­schen Stu­di­en­werk mit fünf­zig Mit­stu­den­ten (vier in einer Bude) mein Werk­se­mes­ter erlebt: mei­ne zwei­te WG. Als Stu­den­ten­ehe­paar mit Kind haben Lui­se und ich in Ham­burg eine Stu­den­ten-WG gegrün­det (die drit­te WG).«