Wer die bessere Geschichte hat, gewinnt.

Um was es geht: Interview

Ihr neu­er Roman Ein Leben lang ist inspi­riert von einem Gerichts­fall, der in Deutsch­land vor etwa 15 Jah­ren für gro­ßes Auf­se­hen sorg­te: dem soge­nann­ten Münch­ner Park­haus­mord. War­um hat die­ser Stoff Ihr Inter­es­se geweckt und wie­so haben Sie dem The­ma gera­de jetzt einen Roman gewidmet?

Anders als mei­net­we­gen Par­me­san rei­fen Romanthe­men nach eige­nen Geset­zen. Mei­ne Frau Danie­la Ago­sti­ni ist Doku­men­tar­fil­me­rin, vor über zehn Jah­ren dreh­te sie eine Doku über den Freun­des­kreis des »Park­haus­mör­ders«, also wie die Freun­de und Freun­din­nen des Ange­klag­ten den Pro­zess und das Urteil erleb­ten. Ich dach­te mir damals: Guter Stoff für einen Roman. Aber nicht als Kri­mi mit Kom­mis­sar und sau­be­rer Auf­lö­sung am Ende und alle gehen beru­higt schla­fen. Son­dern eher: Was macht denn das mit einer Grup­pe? Wel­che Mecha­nis­men wir­ken da? Ist das Spreng­stoff oder Kleb­stoff? Was hält sie zusam­men, was treibt sie aus­ein­an­der?
Auf­grund der Nähe mei­ner Frau zu dem Freun­des­kreis habe ich das Pro­jekt immer wie­der hin­aus­ge­scho­ben. Manch­mal braucht es ein­fach eine Distanz zu den Din­gen. Der Blick ver­än­dert sich mit der Zeit, und das gilt für alle Beteiligten.

Waren die ech­ten Freun­de aus dem Pro­zess um den Park­haus­mord Mün­chen auch Vor­bild für die Figu­ren in Ihrer Geschichte?

Über­haupt nicht. Wenn es da Über­ein­stim­mun­gen geben soll­te, dann sind die wirk­lich nur zufäl­lig – oder gut erfunden.

Der Roman ent­zieht sich einer exak­ten geo­gra­phi­schen und zeit­li­chen Ver­or­tung. Weshalb?

Es geht mir nicht um die exak­te Nach­er­zäh­lung eines »wah­ren Falls« oder eine spä­te Auf­klä­rung à la »So war es wirk­lich«. Ver­bre­chen, Mor­de wer­den ver­übt, und für vie­le Men­schen wird eine Situa­ti­on, die sie bloß aus Kri­mis ken­nen, plötz­lich zur bit­te­ren Rea­li­tät, mit ihr all das Unfass­ba­re, das Unvoll­stell­ba­re, Undenk­ba­re. Sie sind plötz­lich gezwun­gen Stel­lung zu bezie­hen. Sie müs­sen Bin­dun­gen fes­ti­gen oder lösen, sich recht­fer­ti­gen und vie­les hin­ter­fra­gen. Zeit und Ort sind für einen Roman, der so etwas beschreibt, nicht nötig. Es pas­siert über­all und jeder­zeit, und es kann jeden tref­fen. Und die aller­meis­ten wer­den über­rascht sein: wie, er, sie? Das kann doch nicht sein!

Nach Das Sand­korn und Mau­er­seg­ler neh­men Sie sich nun aber­mals dem The­ma Gemein­schaft an. Die Geschich­te liest sich wie ein Kri­mi, beinhal­tet auch Ele­men­te eines Gerichts­dra­mas, vor allem ist es aber ein Roman über die Kraft der Freund­schaft. Hat das Ver­fas­sen des Romans Ihr Ver­ständ­nis davon verändert?

Nicht ver­än­dert, eher erwei­tert. Die wenigs­ten unter uns erle­ben es, dass eine Freund­schaft der­art geprüft wird. Dann muss man sich fra­gen: Blei­ben wir Freun­de, obwohl – oder gera­de weil? Oder las­sen wir’s bes­ser? Freund­schaft ist ja nicht gleich Knecht­schaft. Ich muss nie­man­dem blind ins Ver­der­ben fol­gen, und wenn ich das Gefühl habe, dass mein Ver­trau­en grob miss­braucht wor­den ist, dann darf ich eine Freund­schaft auf­kün­di­gen. Ich darf aber auch sagen: Wir haben hier eine Extrem­si­tua­ti­on, der hat Schei­ße gebaut, er braucht mich nun mehr denn je. Freund­schaft ist ein ande­res Wort für Freiheit.

Der Roman setzt sich aus Äuße­run­gen ver­schie­de­ner Figu­ren zusam­men, einer Jour­na­lis­tin, der Freund:innen, des Ange­klag­ten, des Anwalts. Sie spre­chen nicht mit‑, son­dern über­ein­an­der. Was war der Beweg­grund für die­se Per­spek­ti­ve und wel­che Rol­le spielt dabei der Angeklagte?

Im Roman sind seit der Tat vie­le Jah­re ver­gan­gen. Die Freun­de sind nicht mehr so eng wie frü­her. Die Erin­ne­run­gen kön­nen nicht mehr so prä­zi­se sein wie frü­her. Mit dem zeit­li­chen Abstand sind viel­leicht die Zwei­fel gewach­sen, der Druck der Grup­pe gerin­ger oder gar nicht mehr vor­han­den. Wider­sprü­che tau­chen auf, die damals, unter dem Ein­druck der Ermitt­lun­gen und des Pro­zes­ses, über­tüncht wur­den. Es gibt kei­nen Grund mehr, als geschlos­se­ne Ein­heit auf­zu­tre­ten. Jede ein­zel­ne Figur hat ihr per­sön­li­ches Ver­hält­nis zu dem Ver­ur­teil­ten: sie spre­chen über den sel­ben Men­schen, aber jede, jeder sieht ein ande­res Gesicht, hat eine eige­ne Geschich­te mit die­ser Per­son.
Dass der Angeklagte/Verurteilte aus dem Gefäng­nis hier mit­re­det, ist ein lite­ra­ri­scher Kunst­griff – das kann man mögen oder nicht. Aber er ist – neben dem Mord­op­fer – der ein­zi­ge Garant für die Wahr­heit des Fal­les – falls er wirk­lich der Täter war: Ansons­ten ist er genau­so ahnungs­los wie alle anderen.

Im Zwei­fel für den Ange­klag­ten. Wie liest sich die­ses Prin­zip vor dem Hin­ter­grund der Romanhandlung?

Die­ser Grund­satz besteht wei­ter, Roman hin oder her. Es geht dabei übri­gens um einen »ver­nünf­ti­gen« Zwei­fel, nicht um ein dif­fu­ses Gefühl, einen unbe­stimm­ten Ver­dacht. Klar, Zwei­fel kann man haben, aber dann müs­sen die eben geprüft und gegen die vor­lie­gen­den Fak­ten und die eige­ne Lebens­er­fah­rung abge­wo­gen wer­den. Juris­ten sagen: Es ist »lebens­fremd«, dies oder jenes anzu­neh­men oder anzu­zwei­feln. In mei­nem Roman sieht man, wie das Gericht die Zwei­fel Stück für Stück abräumt und zu sei­ner »zwei­fels­frei­en« Auf­fas­sung kommt, auf der das Urteil beruht, sonst gin­ge es ja auch nicht. Die Ver­tei­di­gung bezwei­felt das natürlich…

Ein Leben lang – wie ist die­ser Titel zu verstehen?

Freund­schaf­ten dau­ern – idea­ler­wei­se – ein Leben lang, und man kann zu »lebens­lang« ver­ur­teilt wer­den, was aber nicht wort­wört­lich zu ver­ste­hen ist, weil vie­le nach 15 Jah­ren raus­kom­men. Natür­lich sind auch Freund­schaf­ten nicht unzer­stör­bar, obwohl ich glau­be, die meis­ten gehen an schnö­der Ver­nach­läs­si­gung zugrun­de, ganz unspek­ta­ku­lär; es braucht nicht unbe­dingt so eine Kata­stro­phe wie im Roman beschrie­ben. Wenn ich mich in mei­nem Freun­des­kreis umse­he, glau­be ich aber, dass da ein paar lebens­lan­ge Freund­schaf­ten dabei sind. Zum Bei­spiel mein ältes­ter Freund, den ich seit der 2. Klas­se ken­ne: Wir tref­fen uns sel­ten, aber es ist dann immer wie – na ja, wie immer. Ganz ver­traut, ganz ent­spannt, ganz nor­mal. Das glei­che Gefühl wie vor 50 Jah­ren, als wir in der sel­ben Schul­bank saßen. Freund­schaft ist so unglaub­lich wertvoll.

Das Ver­trau­en in den Rechts­staat wur­de bei eini­gen der Roman­fi­gu­ren grund­le­gend erschüt­tert. Nach­dem Sie sich aus­führ­lich damit aus­ein­an­der­ge­setzt haben, wie steht es um Ihr Vertrauen?

Ich habe aller­hand gelernt über den Umgang mit Recht und Gesetz, die sprö­de Spra­che des Rechts, die so exakt zu sein ver­sucht und oft so blut­leer klingt. Wie inter­pre­tier­bar ein Indiz sein kann, wie aus vie­len Indi­zi­en ein Bild ent­steht, und dass die Wahr­heits­su­che schwie­rig, aber unbe­dingt not­wen­dig ist, denn Abkür­zun­gen gibt es dabei nicht. Jeden­falls habe ich in unser Rechts­sys­tem durch­aus Ver­trau­en, war­um auch nicht? Es ist pro­fes­sio­nell, nicht unfehl­bar, aber immer noch bes­ser als das Geschwo­re­nen­sys­tem, das zum Bei­spiel in den USA über Schuld und Unschuld eines Ange­klag­ten ent­schei­det. Viel zu emo­tio­nal, viel zu viel Thea­ter; kann man in unge­zähl­ten Hol­ly­wood-Gerichts­dra­men sehen.

Wel­che Rol­le spielt die kri­ti­sche Öffent­lich­keit in einem sol­chen Prozess?

Für die Urteils­fin­dung soll­te sie über­haupt kei­ne Rol­le spie­len. Ver­han­delt wird vor Gericht und nur dort. Die Öffent­lich­keit – in Form der Medi­en und anwe­sen­der Bür­ger – beob­ach­tet, nimmt aber kei­nen Ein­fluss. Staats­an­wäl­te, Rechts­an­wäl­te und Rich­ter, auch die Lai­en­rich­ter, die Schöf­fen, die Teil von deut­schen Straf­ge­rich­ten sind, auch die sind Men­schen, die sich mehr oder min­der gut von der media­len Öffent­lich­keit abschot­ten kön­nen oder wol­len. Es ist unmög­lich abzu­schät­zen, was die Bericht­erstat­tung in spek­ta­ku­lä­ren Fäl­len bei die­sen Leu­ten aus­löst.
Gera­de Bou­le­vard­me­di­en kön­nen Stim­mung machen, die spie­len oft mit dem, was man ein­mal das »gesun­de Volks­emp­fin­den« nann­te, schü­ren Empö­rung über Urtei­le, die angeb­lich kei­ner »da drau­ßen« ver­steht. Da muss man eben genau­er hin­schau­en, auch auf den Geset­zes­text. Das ist müh­sam, das erzeugt kei­ne Schlag­zei­len, ist aber unbe­dingt notwendig.

Zuletzt die Fra­ge, die sich unwei­ger­lich stellt: schul­dig oder unschuldig?

Das ist genau die Fra­ge, die ich nie­mals beant­wor­ten wer­de. Weil ich es nicht weiß, vor allem aber, weil es für die­sen Roman kei­ne Rol­le spielt. Am Ende geht es dar­um, wer die bes­se­re Geschich­te hat, die eine oder die ande­re Sei­te. Das sol­len die Lese­rin­nen und Leser selbst nach­voll­zie­hen und beurteilen.

(Die Fra­gen stell­te Anna H. Kai­ser vom Dio­ge­nes Verlag)