Wer die bessere Geschichte hat, gewinnt.

Tausendfüßlers Problem

Eine hässliche Kröte namens Schreibblockade

Auf die Stra­ße zur blau­en Pago­de scheint heiß die indi­sche Son­ne her­ab – heiß die indi­sche Son­ne herab.

Gus­tav Mey­rink: Der Fluch der Krö­te – Fluch der Krö­te, in: G. M., Des deut­schen Spie­ßers Wunderhorn

Im Schat­ten des Fei­gen­baums sitzt die Krö­te, die den im Dschun­gel hoch­ge­ach­te­ten Tau­send­füß­ler hasst, weil er so flink ist und ele­gant glit­zert. Die Krö­te aber ist häss­lich, war­zig und schlei­mig und will den Tau­send­füss­ler ver­der­ben. Und dafür genügt ihr eine ein­zi­ge, harm­lo­se Frage:

Sage mir doch – o Ver­eh­rungs­wür­di­ger, wie es sein kann, dass Du beim Gehen immer weißt, mit wel­chem Fuße du anfan­gen musst, wel­cher der zwei­te sei – und dann der drit­te – wel­cher dann kommt als vier­ter, als fünf­ter, als sechs­ter –, ob der zehn­te dann folgt oder der hun­derts­te, was dabei der zwei­te macht und der sie­ben­te, ob er ste­hen­bleibt oder wei­ter­geht – wenn du beim neun­hun­dert­sieb­zeh­ten ange­langt bist […]

Gus­tav Mey­rink: Der Fluch der Krö­te – Fluch der Krö­te, in: G. M., Des deut­schen Spie­ßers Wunderhorn 

Tja, man­che Din­ge funk­tio­nie­ren ein­fach – so ganz intui­tiv, aus dem Bauch her­aus – aber wehe, man beginnt dar­über nach­zu­den­ken. Dann ist’s vor­bei. Tota­le Blo­cka­de. Kennt man in der Medi­zin schon lan­ge.
Für die Wie­ner Kli­ni­sche Rund­schau vom 6. Janu­ar 1907 steu­ert der berühm­te Pro­fes­sor Arnold Pick, Prag, den Leit­ar­ti­kel bei. Titel:

Über Störungen motorischer Funktionen durch die auf sie gerichtete Aufmerksamkeit

Exakt jener Pro­fes­sor Pick, den Gus­tav Mey­rink wegen sei­nes Rücken­lei­dens kon­sul­tier­te, und über den Mey­rink spä­ter wenig Freund­li­ches zu sagen hat­te. Pick bringt nun aller­hand Bei­spie­le, um die Exis­tenz des in Rede ste­hen­den Phä­no­mens zu bele­gen, und um – auf Mey­rink zu kom­men. Denn nur sel­ten sei in der medi­zi­ni­schen Lite­ra­tur über moto­ri­sche Stö­run­gen des Gehens zu lesen, und gera­de des­we­gen sei es 

gewiss bemer­kens­wert, daß ein Teil ein­schlä­gi­gen Nach­wei­se der bel­le­tris­ti­schen deut­schen und eng­li­schen Lite­ra­tur ent­stammt: in der letz­te­ren fin­de ich die unten zitier­ten Ver­se; in der deut­schen Lite­ra­tur hat der bekann­te Sati­ri­ker M e y r i n k anschei­nend ohne Kennt­nis der eng­li­schen Ver­se, gleich­falls die Geschich­te vom Tau­send­füß­ler beschrie­ben, der nicht mehr lau­fen konn­te, als er durch eine ent­spre­chen­de Fra­ge ver­an­lasst wur­de, auf die Abfol­ge der zu gebrau­chen­den Bei­ne zu achten. 

Arnold Pick: Über Stö­run­gen moto­ri­scher Funk­to­nen durch die auf sie gerich­te­te Auf­merk­sam­keit, in: Wie­ner Kli­ni­sche Rund­schau, 6. Janu­ar 1907, Sei­te 1ff.

Ich kann mir durch­aus vor­stel­len, dass Mey­rink die von Pick (ohne Quel­len­an­ga­be, hier mehr dazu) erwähn­ten Zei­len kann­te. So oder so, sie lau­ten, nach Pick:

The cen­ti­pe­de was hap­py qui­te
until the toad for fun
Said: Pray which leg comes after which?
This wrought his mind to such a pitch
He lay dis­trac­ted in the ditch
Con­si­de­ring how to run.

Ich habe den »Fluch der Krö­te« in den »Unsicht­ba­ren Roman« auf­ge­nom­men, um Mey­rinks Schreib­hem­mung im Ange­sicht der ihm gestell­ten Auf­ga­be zu illustrieren. 

Die berühmt-berüch­tig­te »Schreib­blo­cka­de«, nach der Schrift­stel­ler so ger­ne gefragt wer­den, dürf­te zwar sel­ten auf eine Hem­mung der Fin­ger­fer­tig­keit zurück­ge­hen. Aber jede Art von Zwei­fel kann eine krea­ti­ve Tätig­keit emp­find­lich hem­men, und jeder Autor, jede Autorin, der/die seine/ihre Fähig­kei­ten und Mög­lich­kei­ten in Fra­ge stellt, balan­ciert auf einem schma­len Grat. Die (selbst)kritische Betrach­tung des eige­nen Schaf­fens muss sein, aber wie weit darf und soll sie gehen? Eine gewis­se Anma­ßung steht im Ursprung jedes künst­le­ri­schen Schaf­fens, ein Ich kann!, das höchst ungern an sei­nen Ursprung und sei­ne Gren­zen erin­nert wird. Zumal die­ses Kön­nen oft­mals völ­lig unre­flek­tiert ist, denn die Regeln des Hand­werks, falls es eines ist, sind bes­ten­falls unklar. Ich will zwei exakt anzei­gen­de Uhr­zei­ger, aber ohne das läs­tig ticken­de Uhr­werk. Ich will Pünkt­lich­keit, aber ohne Fahr­plan. Ich will Wag­ners Par­si­fal sein – »durch Mit­leid wis­send, der rei­ne Tor« – rich­tig und falsch, gut und schlecht unter­schei­den und beschrei­ben kön­nen, aber kei­ne Rechen­schaft dafür ablegen. 

Mit ande­ren Wor­ten: Ich will schrei­ben, aber ich will gar nicht wis­sen, wie genau das funk­tio­niert. Ich bin der Tau­send­füß­ler und wenn ich eine Krö­te auch nur von wei­tem sehe, mache ich bes­ser einen gro­ßen Bogen um sie. Denn:

Der Tau­send­füß­ler aber blieb starr an den Boden fest­ge­bannt und konn­te hin­fort kein Glied mehr rüh­ren.
Er hat­te ver­ges­sen, wel­ches Bein er zuerst heben soll­te, und je mehr er dar­über nach­dach­te, des­to weni­ger konn­te er sich ent­sin­nen – konn­te er sich ent­sin­nen.
Auf die Stra­ße zur blau­en Pago­de schien heiß die indi­sche Son­ne her­ab – indi­sche Son­ne herab.

Gus­tav Mey­rink: Der Fluch der Krö­te – Fluch der Krö­te, in: G. M., Des deut­schen Spie­ßers Wunderhorn