Meyrink und ich
Geschichte einer literarischen Prägung
Sagen wir: ich kenne ihn schon lange. Des deutschen Spießers Wunderhorn führte uns zusammen. Das Buch stammte aus dem Regal meines Vaters, ich war in den frühen Teens, und wenn es da einen gab, der etwas gegen den deutschen Spießer hatte, dann war er mein Freund. Was das »Wunderhorn« bedeuten sollte – egal. So sieht das langsam total auseinander fallende Buch heute aus:

Ich nehme an, dass mich damals der Renegat Meyrink ansprach. Ganz offenbar war im »Wunderhorn« einer damit beschäftigt, ganz heftig gegen den Strich zu bürsten. Der machte sich lustig über jede Art von Autorität, sofern sie eher auf Uniform, zertifizierte Anmaßung oder Blasiertheit als auf echter Substanz basierte.
Des deutschen Spießers Wunderhorn spielt im Titel auf eine einstmalen bekannte deutsche Volksliedersammlung an 1 und ist eine dreibändige Kollektion von Satiren und Novellen Meyrinks, die im Simplicissimus bis 1913 publiziert worden waren. Darin gibt es eine Geschichte, die ich damals besonders faszinierend fand:
Der Albino.
Es geht um eine seltsame Freundesclique, und seltsame Namen tragen sie: Ariost, Corvinus, der Arche-Zensor, Baal Schem, Lord Kelwyn. Der Corvinus verlässt die Gesellschaft plötzlich, will sich bei dem Bildhauer Iranak-Essak, genannt der Albino, weil er nur bei Nacht arbeitet, das Gesicht in Gips abbilden lassen. Da Corvinus nicht zurückkehrt, geht man ihn suchen. Im stockfinstern, labyrinthischen Haus des Albinos tappern die Freunde herum.
Ah ja – vielleicht hilft es zu wissen, dass das Anfertigen von Gipsabdrücken im gymnasialen Kunstunterricht damals große Mode war. Man belegt das Gesicht mit vaselinegetränkten Binden und schmiert Gips darauf, sorgsam darauf achtend, dass Mund und Nasenlöcher nicht bedeckt sind.
Na, jedenfalls bricht auf einmal der eingegipste Corvinus aus der Kulisse:
Corvinus, in der Wand eingekeilt bis zur Brust, wand sich in Konvulsionen.
»Werkzeuge! Eisen!« heulte Fortunat, »holt Eisenstangen, schlagt den Gips entzwei! – er erstickt! Das Scheusal hat ihm die Strohhalme zum Atmen herausgezogen – und den Mund vergipst!«
Oder die Geschichte des alten Jürgen, eines unschuldig verurteilten Ex-Knastis, der in einem düstren Gewölbe zwischen Dutzenden Käfigen sitzt und Singvögel verkauft. Diese Erzählung heißt Das ganze Sein ist flammend Leid und ist todtraurig. Eines Tages lässt ein Kunde ein Buch liegen, irgendeine Übersetzung aus dem Indischen. Bei Jürgen brennt sich eine Strophe ein:
Das ganze Sein ist flammend Leid.
Wer dies mit weisem Sinne sieht,
wird bald des Leidenslebens satt.
Das ist der Weg zur Läuterung.
Eines Tages betritt eine feine Dame seinen Laden, der Diener trägt den Käfig mit den Nachtigallen, die sie bei ihm Tage zuvor gekauft hat. Die singen zu wenig, sagt die Dame, Sie müssen die Vögel blenden. Da fällt bei dem Alten irgendein Schalter. Er lässt alle seine Vögel fliegen und erhängt sich… Das ganze Sein ist flammend Leid.
Auch das wird bei einem Teenager eine Saite angeschlagen haben, genauso wie ich den einen oder anderen gewusst hätte, dem ich zumindest ein Nasenloch zugegipst hätte… wenn. In diesem Alter ist man am empfindsamsten, was Leseerlebnisse betrifft. Nie wieder kehrt diese Erschütterbarkeit zurück, wenn sie mit dem Erwachsenwerden einmal verschwunden ist.
Der Golem

Vom Golem besaß ich zunächst eine billige Taschenbuchausgabe, immerhin mit Illustrationen von Hugo Steiner-Prag. Egal, denn das Buch beeindruckte mich über alle Maßen. Ist es eine Traumgeschichte? Was überhaupt davon ist wahr? Die Geschichte spielt in der Josefstadt, dem alten Prager Ghetto. Ende des 19. Jahrhunderts wird das alles abgerissen und saniert, praktisch neu aufgebaut. Ich schrieb eine »Facharbeit« im Fach Deutsch über das Buch: Was aus der Romanhandlung in der belegbaren Realität wiederzufinden sei? Athanasius Pernath, der Protagonist, wohnt in einem Haus in der Hahnpaßgasse. Treffer! In einem alten Prager Stadtplan fand ich eine Hainpasgasse – und diese in direkter Nachbarschaft zum alten jüdischen Friedhof – den Pernath aus seinem Fenster erkennen kann. Und viele weitere solcher Vergewisserungen (leider ist die Facharbeit verschollen). Der Meyrink schrieb über das, was er kannte. Was ihn freilich nicht davon abhielt, seine Imagination laufen zu lassen, wenn er das für richtig hielt. Und ab und zu erlaubte er sich wohl einen Spaß. Da gibt es eine Nebenfigur namens Ferri Athenstädt, die einmal ihren Auftritt hat, der ich aber kaum mehr Beachtung schenkte.
Als ich dann aber in den Besitz einer Golem-Ausgabe von 1916 kam, fand ich zwischen den Seiten allerhand mehr oder weniger wunderliche Einmerker. Getrocknete Blumen, eine zerrissene Visitenkarte:

Wer mir etwas über Castulus Bergsteiner sagen kann: bitte sehr, an autor@poschenrieder.de
Und auch dies hier fand ich noch:

Mit etwas googln stellt sich heraus, dass Tinctura Ferri Athenstaedt (Ferrum, Ferri, lat., das Eisen) einst ein beliebtes Eisenpräparat mit einem breiten Anwendungsspektrum war. Von unserem Radar ist das längst verschwunden, aber ein/e frühere/r Leser/Leserin hat es gleich gemerkt und den Ausriss an die richtige Stelle im Buch gesetzt, wo er sich heute noch befindet.
1 Brentano/Arnim: Des Knaben Wunderhorn)