Shit Storm anno dazumal
Die »Meyrink-Hetze« 1917/18 und was man heute daraus lernen kann
Im April 1917 gerät Gustav Meyrink ohne besonderes Zutun – es gab auch keinen aktuellen Anlass – in das Visier deutschnationaler Kreise: Ein Shitstorm mit den Mitteln der damaligen Zeit. Ein gewisser Albert Zimmermann (heute wie damals eine obskure Figur) publiziert in der Zeitschrift Deutsches Volkstum einen Aufsatz über Gustav Meyrink; in der kaum verschleierten Absicht, ihn als Autor zu vernichten. Bedeutendere Blätter greifen auf und verbreiten, was Zimmermann im Tonfall des beleidigten Spießbürgers schreibt:

Man m u ß ihn kennen. Man m u ß seine eigentümliche, phantastische, sarkastische Art schätzen, man m u ß, wenn man kein Trottel sein will, seine Ironie bewundern und erhaben und mitleidig über die zurückgebliebenen Köpfe lächeln, die nicht mittun können.
Gustav Meyrink und seine Freunde. Ein Bild aus dem dritten Kriegsjahr von Albert Zimmermann (Flugschriften der »Fichte-Gesellschaft von 1914«, Deutschnationale Verlagsanstalt AG, Hamburg 1917), Seite 4. [In dieser Flugschrift antwortete Zimmermann auf erste Reaktionen auf seinen Artikel in »Deutsches Volkstum« und erneuerte die Angriffe gegen Gustav Meyrink.]
Meyrink ist zu dieser Zeit ein berühmter Autor. Der Golem von 1915 war ein Bestseller; auch mit dem darauf folgenden Roman Das grüne Gesicht hatte er großen Erfolg – beide keine politischen oder pointiert zeitkritischen Werke. Als satirischer Autor des Simplicissimus tritt Meyrink während der Kriegsjahre kaum mehr in Erscheinung. Aber Zimmermann befürchtet das Schlimmste, sobald der Krieg zuende ist:
Meyrink wird einer der geschicktesten und gefährlichsten Gegner des deutschen, des völkischen Gedankens sein. Er wird Tausende und Abertausende so beeinflussen – und verderben – wie es Heine getan hat.
Zimmermann, a.a.O., Seite 4–5
Es sind nicht nur große Zeitungen, die mit Genuss die Zimmermannschen Phobien verbreiten. Patriotische Empörung und nationalistische Gefühle sickern durch bis ins idyllische Starnberg, wo Meyrink mit Frau und zwei Kindern lebt. Kaufleute, Metzger und Bäcker wollen ihn nicht mehr bedienen, Straßenarbeiter schleudern Erdbrocken nach ihm und im Lokalblättchen schreibt ein Anonymus dazu gehässige Kommentare.
Das geht an die Substanz
Das ist schlimm genug; aber auch Meyrinks wirtschaftliche Existenz ist gefährdet. Eilfertige Buchhändler nehmen seine Bücher aus den Regalen, in Österreich wird der Verkauf einiger Ausgaben verboten. Vereine und Bibliotheken drohen dem Verleger Meyrinks an, bei ihm nicht mehr zu kaufen, solange Meyrink im Verlagsprogramm ist.
Es gibt aber Menschen, die dem Schriftsteller zur Seite springen. Einer ist der Münchner Verleger und Herausgeber Hans von Weber, der in seiner schöngeistig-liberalen Zeitschrift unter dem Titel Zur Meyrink-Hetze schreibt:

[Zimmermann] witterte einen p o l i t i s c h e n Gegner in einem Dichter, über den er in den vielen langen Jahren vorher geschwiegen hat. Deshalb schlägt er ihn lieber gleich tot, bevor er gefährlich wird für das, was Herr Z. unter den Idealen weiter Kreise versteht. Für die Steinwürfe der Starnberger Arbeiter hat er kein Wort des Bedauerns. Es ist die Frage, ob er beispielsweise für ein richtiges P o g r o m ebenfalls nur ein Achselzucken übrig haben würde.
Der Zwiebelfisch. Eine kleine Zeitschrift über Bücher und andere Dinge. Heft 4/5 1918 (München, Hans von Weber Verlag), S. 112
Die Mittel sind damals andere: Man bringt »Flugschriften« unters Volk, man setzt auf die Streuung durch Zeitungen. Die Methoden sind die gleichen wie heute: Stimmungen aufspüren, nützen, anheizen. Gerüchte und Fakten auseinanderzuhalten: aber nicht doch. Leute wie Zimmermann zünden sich im Pulvermagazin eine an und wundern sich scheinheilig, wenn alles hochgeht.
Der Mord an dem Kasseler Regierungsdirektor Walter Lübcke im Frühsommer 2019 könnte einem (als vielfach tragischere) Parallele zu Meyrinks Sache einfallen. Natürlich sind auch die heutigen Mittel potenter: die verführerische Leichtigkeit der Diffamierung via social media, anonym gesichtslose Schmähungen, das gegenseitige Aufstacheln in der Filterblase, das Gefühl zu einer schweigenden, womöglich unterdrückten Mehrheit zu gehören. Der sich aufstauende Drang, »etwas tun zu müssen« – bis der dann bricht, der Damm.
Und zu »denen da oben« kann man wohl auch als Schriftsteller zählen.
Wobei es Meyrink in seinen Satiren immer auf die »da oben« abgesehen hatte: Militär, Monarchie, Adel, Klerus, Akademiker, alles Arrogante, Bornierte, Eingebildete und Dünkelhafte, alle jene, die mit Abscheu und Herablassung auf die »da unten« schauen. Zimmermann, der Verblendete, sieht aber keinen Verbündeten, ihn erfasst das reine Grauen:
Meyrink denkt nicht nur international, sondern a n t i national. Ihm ist alles Nationale ein Greuel. Er verfolgt alle nationalen Bestrebungen mit der ihm eigenen Rücksichtlosigkeit und ergießt seinen Spott am liebsten über die gegebenen Vertreter von Staat und Volk.
Zimmermann, a.a.O., Seite 6
Das stimmt natürlich, und Zimmermann gibt sich Mühe, dies mit vielen Beispielen aus Meyrinkschen Werken zu belegen. Aber wozu diese Mühe? Meyrink ist Satiriker. Er greift niemanden in Person an, stets die überzeichneten Prototypen. Darüber kann man sich ärgern, doch ein ganzes Volk beeinflussen, reicht es dazu? Hätte er als Dichter irgendeine Wirkung – wie von Zimmerman unterstellt – wie hätte es zum Krieg kommen können, den die »gegebenen Vetreter von Staat und Volk« angezettelt haben? Niemals hätte sich das Volk von solchen Karikaturen zum Mitmachen verleiten lassen, oder? Zimmermann überschätzt sowohl die Macht der Literatur als auch die Macht der Literaten. Und das weiß er wohl selbst. Er hat nämlich noch ein »Argument«:
»Gustav Meyrink steht nämlich im Semi-Kürschner!«
Der »Semi[ten]-Kürschner« ist ein Personenlexikon, verfasst von dem völkisch gesinnten Publizisten Philipp Stauff, das im Untertitel »Literarisches Lexikon der Schriftsteller, Dichter, Bankiers, Geldleute, Ärzte, Schauspieler, Künstler, Musiker, Offiziere, Rechtsanwälte, Revolutionäre, Frauenrechtlerinnen, Sozialdemokraten usw., jüdischer Rasse und Versippung, die von 1813–1913 in Deutschland tätig oder bekannt waren« heißt. In diesem Machwerk, dessen Absicht nicht Aufklärung, sondern Diffamierung ist, landet auch Gustav Meyrink. Nicht weil er tatsächlich Jude ist (tatsächlich ist er als protestantischer Christ getauft), – sondern weil er als »Fremder« ausgegrenzt werden soll. Zimmermann, der am Eintrag im »Semi-Kürschner« auch dann noch nicht zweifelt, als von mehreren Seiten bestätigt wird, dass Meyrink nicht jüdisch ist, stellt in seiner Flugschrift die rhetorische Frage:
Sollen wir uns aber vom F r e m d e n Dinge sagen lassen, wie sie im »Schöpsoglobin« oder im »Saturnring« [zwei satirische Novellen von GM] enthalten sind? […]
Zimmermann, a.a.0., Seite 12
Sollen wir tatenlos zusehen, wie seine Bücher in Massen ins Feld geschickt werden [von Meyrinks Golem gab es eine Feldpost-Ausgabe]?
Meyrink schmäht das, was teuer ist, bei ganz kaltem Blute. Für ihn gibt es keine Entschuldigung.
Den »Semi-Kürschner« nennt Zimmermann »im allgemeinen recht zuverlässig«, und er zieht noch ein paar andere aus seiner Sicht glaubwürdige Quellen heran, um Meyrinks jüdische »Rassenzugehörigkeit« zu belegen. Viel mehr als Hörensagen ist das nicht; auch die im Golem reichlich vorhandenen Elemente aus jüdischer Lebenswelt (die Geschichte spielt im Prager Ghetto) und Mythologie müssen zum Beweis herhalten. Selbst wenn Zimmermann einräumen muss: »Also Meyrink selbst behauptet, kein Jude zu sein. Seine jüdischen Freunde bestätigen seine Behauptung.« – es kann sein Weltbild nicht erschüttern. Schließlich gebe es da diese Notiz in den »Bremer Nachrichten« vom 22. Juli 1917, in der nach Zimmermanns Angaben zu lesen ist:
»G. Meyrink heißt eigentlich Gustav Meyer und ist als unehelicher Sohn der jüdischen Schauspielerin Marie Meyer 1868 in Wien geboren. Er lebt jetzt in Starnberg. […]«
Zimmermann, a.a.O., Seite 14
Richtig ist, dass Meyrink ein Künstlername ist, falsch jedoch, dass seine Mutter Jüdin sei. Ist dann auch schon egal; denn die ganze argumentative Spiegelfechterei entlarvt sich ein paar Seiten weiter in Zimmermanns Pamphlet auf das Schönste:
Meyrinks Art ist spezifisch jüdisch.
Zimmermann, a.a.O., Seite 20
Wer in die Röhre schaut
Na also: Selbst wenn er unwahrscheinlicherweise kein Jude/Schwuler/Zigeuner/whatever sein sollte: Seine »Art« ist jüdisch/schwul/zigeunerisch/whatever. Und die »Lügenpresse« (übrigens ein Begriff, der in der Zeit des Ersten Weltkriegs Hochkonjunktur hatte) tut das ihre dazu, um die »Wahrheit« zu unterdrücken:
Jüdisch ist auch zumeist die Leitung der großen deutschen Presse, jüdisch sind die Kritiker, viele literarische Zeitschriften. Kein Wunder, dass Meyrinks Lob bald von allen Zweigen scholl.
Zimmermann, a.a.O., Seite 20f
An Verschwörungen zu glauben, heißt sich zu immunisieren gegen jede Art von Fakt, Argument, Rationalität und Wirklichkeit. Nicht nur blickt man wie durch einen Tunnel – oder wie durch eine Papierrolle, auch bleibt die Rolle starr auf denen einen und einzigen Punkt gerichtet. Es ist die totale Abdankung des Verstandes und der Vernunft. Wer an Verschwörungen glaubt, hält sich selbst für einen Aufklärer. Für einen Helden, der gegen den Strom schwimmt und kämpft. In Wahrheit jedoch sucht er die Unterordnung unter irgendeine »größere Idee«, die es unter allen Umständen zu verteidigen gilt, und er oder sie gibt dafür seine oder ihre intelektuelle Freiheit auf. Identität zählt mehr als Vielfalt, die verwirrt bloß.
Meine Meinung: Es gibt sie, die eine Wahrheit, es muss sie geben. »Wahrheit« kann nicht im Plural auftreten. Es ist leicht und gemütlich zu sagen: Jeder und jedes hat seine »eigene Wahrheit«. Freilich, da hat jeder seine Ruh. Da kann ich es mir auf dem Sofa bequem machen. Da muss ich nicht aufstehen, nur weil einer alle Rothaarigen ausrotten will. Ist halt »seine Wahrheit«, was will man machen?
Die Folgen für Meyrink aus dieser Sache? Die Fronten brachen im Herbst 1918 zusammen, das Kaiserreich war am Ende, Europa wurde von den neuerdings herrschenden Kräften umgestaltet. Zimmermanns Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet, Meyrink wurde keineswegs zum Anführer einer antideutschen, antinationalen Bewegung, warum auch, dergleichen hatte er nie im Sinn. Da gab es ganz andere Probleme, für Meyrink wie für Deutschland. Er konnte mit seinen späteren Werken nicht mehr an die Erfolge der Kriegszeit anknüpfen. Er schrieb keine satirischen Novellen mehr; vielleicht haben ihm die Angriffe stärker zugesetzt, als er es zugeben wollte.
Dieser Zimmermann hatte seine 15 Minuten und trat danach meines Wissens nicht mehr in Erscheinung. Vielleicht war er auch nur ein Pseudonym… der Strohmann einer Bewegung…? Aber wer glaubt schon an Verschwörungen…