Mein Flug nach Arras
Ich stehe in einem Getreidefeld und fühle mich wie meine eigene Romanfigur. Das ist der Ort. Er hat keinen Namen, nur Koordinaten: 50° 20‘ 02,16“ Nord, 2° 48‘ 08,24“ Ost. Nichts besonderes, nur ein Feld bei Arras in Nordfrankreich, es ist Sommeranfang, früher Nachmittag nach kräftigem Regen. An meinen Sohlen klebt dick der Schlamm. Stramme Halme rundherum, sie stemmen pralle Ähren im agro-industriellen Gleichmaß. Wie tief reichen wohl ihre Wurzeln?
Hier, um ein paar Meter hin oder her, kam am Ostermontag 1917, etwa um die Mittagszeit, mein Großonkel, der Oberleutnant Ludwig Rechenmacher zurück auf die Erde. Ich würde gerne sehen, was er gesehen hat, als ihn die Engländer entwaffneten.
Mit der Reise nach Arras holte ich nur etwas nach; eigentlich sehe ich mir die Schauplätze lieber vorher an. Aber „Der Spiegelkasten“ ist (auch) aus der Perspektive eines Mannes erzählt, der die Welt nur durch einen Computermonitor (und sich darin gespiegelt) sieht; die wollte ich bewahren, solange ich schrieb.
Es riecht nach Agrarchemie. Die Sportflugzeuge vom nahen Flugplatz brummen über den Himmel. Ich könnte mir ja vorstellen, es wäre der Rote Baron in seinem Dreidecker. Oder Antoine de Saint-Exupéry, der im nächsten Krieg eine sinn- und nutzlose Aufklärungsmission über Arras flog und später schrieb: Bei uns ist wenigstens der Tod sauber. Ein Tod in Eis und Feuer. In Sonne, Himmel, Eis und Feuer. Da unten aber wird man vom Schlamm verschlungen (Flug nach Arras, 1942).
Ich glaube, dass es den genius loci gibt, den Geist des Ortes, und dass man ihn spüren kann, wenn man will und vorbereitet ist. Ein bisschen Phantasie hilft natürlich. Deswegen fuhr ich für „Die Welt ist im Kopf“ auf der alten Postkutschenroute von Dresden nach Venedig, suchte mir dort das Haus, in dem mein Roman-Schopenhauer leben sollte, und den stillen Platz am Kanal, wo er Lord Byron treffen sollte. Nicht, um das zentimetergenau beschreiben zu können, sondern um den Geist des Ortes aus dem Rauschen zu filtern. Die chinesischen Reisegruppen, die Souvenirstände, die Fernseher, die aus den Wohnungen dröhnen, das kann man sich alles wegdenken.
In dem Getreidefeld bei Arras ist die Frage: Was kann man sich dazudenken? Zermalmtes Land, unendliche Trostlosigkeit, Zerstörung, den Tod und das Leid? Wenigstens zwei Tage saß Rechenmacher in diesem Loch in der Erde, ein Unterstand, der auf der alten Grabenkarte „Prinz-Franz-Hütte“ heißt. Er kam heraus, ergab sich. Nach der Gefangenschaft steckte er seine Kriegsfotos in Alben, nummerierte und beschriftete alles sorgfältig – und sprach nie mehr darüber.
Wen interessiert dieser Erste Weltkrieg überhaupt noch? Später am selben Nachmittag, auf dem deutschen Soldatenfriedhof St-Laurent-Blangy: Über dem Massengrab liegen in zwei langen Reihen Metalltafeln mit Namen. Der Wind rollt ein umgefallenes Grablicht herum. Eines steht noch aufrecht, aber die Kerzenflamme ist erloschen. Und am Fuß eines Grabkreuzes zerfällt ein Kranzgeflecht. Macht drei Zeichen der Erinnerung für 32.000 Tote, mit und ohne Namen. Die Grabsteine der jüdischen Gefallenen tragen den Davidstern und die Inschrift Möge seine Seele wieder mit dem Kreis der Lebenden verbunden werden. Mein Begleiter, der Nazideutschland im Alter von drei Jahren verlassen musste, findet diesen schattenlichten Hain very Germanic, wegen der vielen wispernden, alten Eichen und Ahornbäume. Ein schöner und einsamer Ort; selbst wenn man, wie der Schriftsteller und Frontarzt Ernst Weiß (1882 – 1940), leise sagen mag: So viele Tage, Taten, Siege, Demütigungen und Vernichtungen – und doch kein Sinn.
Ich habe mich immer gefragt: Wie kann man so einen Krieg überleben? Mit Glück bleibt man körperlich unversehrt, aber die Seele muss doch leiden. Wer oder was heilt die Seele? Im Sommer 2008 zog ich die Alben Ludwig Rechenmachers nach langer Zeit wieder hervor. Ein Foto, auf dem er und ein anderer Offizier in vertrauter Pose, Arme untergehakt, zu sehen sind, trägt die Notiz: Mit Manneberg vor dem Schloss in Fresnes. Einer schaut in die Kamera, der andere nicht. Ich stellte mir vor, dass beide eine besondere, wenn nicht seltsame Freundschaft verband. Im selben Sommer las ich in dem amerikanischen Magazin The New Yorker von einem Arzt, der Phantomschmerz heilen konnte: Ich versetzte ihn nach Nordfrankreich, 1915. Und in Wien studierte jemand (ein guter Freund von mir – sorry, J.-P.!) tagein, tagaus französische Zeitungen und Medien, um daraus zu kondensieren, wie die veröffentlichte Meinung Frankreichs die Vereinigten Staaten sah. Ich nahm ihm (der Romanfigur) die Zeitungen weg, um zu sehen, was passiert.
Das Manuskript schloss ich im März 2011 ab. Aber eigentlich fertig und vollständig wurde der Spiegelkasten für mich erst in dem öden Getreidefeld bei Arras, an dem Ort der keiner mehr ist. Außer man kennt seine Geschichte.
Dieser Link führt Sie via Google Earth direkt an diesen Punkt in dem Getreidefeld bei
Arras. (Eventuell müssen Sie zuvor Google Earth installieren; das lohnt sich aber in jedem Fall!)