Bei Mannebergs Erben in Chicago(II)
(Dies ist die Fortsetzung vom ersten Teil)
Nach etwas touristischer Zerstreuung in downtown Chicago (eine schöne, beeindruckende Stadt! Allerdings nichts für Leute, die unter einem steifen Nacken leiden) fuhr ich am Mittwoch nach Evanston, ein nördlich am Ufer des Lake Michigan gelegener Vorort. Dort, in unmittelbarer Nähe des Campus der Northwestern University, befindet sich das Haus von Kents Tochter Susan: Showtime – der von langer Hand vorbereitete Literary-Historical Salon, zweifellos der Höhepunkt meines Besuches.
Ich habe zwar schon viele Lesungen hinter mir, aber so sehr man sich bei solchen Auftritten exponiert, so sehr kann man sich auch am vertrauten Text festhalten. Hier aber sollte ich (natürlich auf Englisch) über meine Recherchen zum Spiegelkasten sprechen. Vor Familie, Freunden, Bekannten… Aber zuerst blätterten Kent und ich nochmal in den Photoalben meines Großonkels Ludwig Rechenmacher.
Susan hatte Photos, Briefe und Dokumente zur Familiengeschichte der Mannebergs/Mannings zur allgemeinen Begutachtung auf dem großen Esstisch ausgelegt, auch einiges von dem, das ich in den Archiven gefunden hatte. Ich entfaltete eine alte Karte der Schützengräben vor Arras und plazierte Photos von Ismar Manneberg darauf, an den (ungefähr) richtigen Stellen, so dass man sehen konnte, wo sich dieser oder jener Unterstand oder Grabenabschnitt befand (ähnlich wie hier).
Ismars Sohn Kurt (Kent) blieb bei all dem sehr gelassen. Er ließ sich von meiner Frau Daniela amüsiert Nase und Stirn pudern, denn die ganze Angelegenheit sollte auf Video aufgezeichnet werden: da will man glänzen, klar, aber nicht im Gesicht.
Die ersten Gäste trafen ein. Ich glaube, die meisten waren so gespannt wie ich: Was sollte das wohl werden?
Susan gab eine kurze Einführung, dann las ich, auf Deutsch, einen Abschnitt aus dem Spiegelkasten: Der junge Offiziersaspirant Ismar Manneberg wartet vor dem Tor der Marsfeldkaserne in München auf das Ergebnis der Offizierswahl. Ist er drin oder nicht?
Kents Sohn Bo (eigentlich heißt er Kent Roger junior) las anschließend die selbe Stelle auf Englisch. Gegen Ende versagte ihm fast die Stimme; es war ein sehr emotionaler Moment.
Ich erzählte dann über die Entstehung des Buches, die Recherchen dazu und darüber, wie ich den Kontakt zur Familie Manning gefunden hatte (die Einzelheiten dazu habe ich im Blog schon beschrieben: Mail von Manneberg). Mir schräg gegenüber saß Gail Shulman, die Tochter Eva Mannebergs (Kents/Kurts Schwester): Ihr hatte ich den ersten Brief geschrieben. Wenn sie ihn nicht an Kent weitergeleitet hättet, säßen wir heute nicht alle hier, dachte ich mir.
Kents Geschichte
Kent stand auf, zupfte seine Weste zurecht und erzählte seine eigene Geschichte. Und die hat es in sich. Sie ist, wie die seines Vaters Ismar (die allerdings noch vom alten Kaiserreich geprägt ist), eine ungemein deutsche Geschichte von der eher traurigen Sorte:
Kurt Manneberg kannte seinen Vater nicht, denn der starb ein Jahr nach seiner Geburt. Susanne Manneberg erzog die beiden Kinder allein. Kent erinnert sich, dass sie in den 30er Jahren ein Kempinski-Restaurant in Breslau führte (die berühmte Hoteliers-Dynastie begann im 19. Jahrhundert als Weinhandlung in Breslau. Ich konnte bisher für eine andauernde Präsenz Kempinskis – unter diesem Namen – in B. allerdings keine Hinweise finden). Die Mannebergs lebten in einer geräumigen Wohnung über dem Restaurant im Zentrum der Stadt. In Kurts Spielzimmer passte sogar ein Tischtennistisch.
1936, drei Jahre nach der »Machtergreifung« Hitlers, schickte Susanne Manneberg ihren 13jährigen Sohn nach England. Ein Hilfskomitee (und später das Refugee Childrens Movement) nahm sich seiner an und brachte ihn in einer Highschool in Shoreham-by-Sea (Sussex) unter. Was Susanne zu diesem Schritt veranlasst hatte – es scheint rückblickend klar, warum. Doch eine Absicht, von ihr geäußert, ist nicht bekannt.
Kurt war ein guter (sehr sehr guter: Kent zeigte mir seine Zeugnisse) Schüler. Und er spielte in der ersten Mannschaft der Schule Fußball. Zweimal noch besuchte er während der Sommerferien seine Mutter in Breslau: 1937 und 1938. Danach sah er sie nicht mehr. Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Als deutscher Staatsbürger – ganz gleich, dass er jüdischer Flüchtling war – wurde er als enemy alien klassifiziert. Für eine Zeit wurde er sogar interniert; er erinnert sich aber nicht ungern an diese Periode, schon deshalb, weil es dreimal pro Tag zu essen gab (was in den folgenden Jahren selten so war).
Als exzellenter Schüler konnte er studieren, die guten Noten sicherten die nötigen Stipendien. Die Kriegsjahre verbrachte Kurt in London (unter deutschen Bomben, V1 und V2-Raketen) zunächst als Student der Ingenieurwissenschaften an verschiedenen Colleges. Auch hier passierte er die Examen mit Auszeichnung, obwohl der Druck hoch war: Der Stoff von vier Jahren wurde innerhalb von dreien durchgezogen, weil Ingenieure dringend benötigt wurden. Einen interessanten Job in der Kriegswirtschaft (Flugzeugindustrie, das hätte ihm gefallen) konnte er dennoch nicht landen: sein Status als enemy alien machte ihm einen Strich durch die Rechnung. So war er gezwungen, (unter anderem) als Busboy in einem Hotel zu arbeiten. Dort nahm er einmal ein paar alte Brötchen mit, wurde erwischt und erhielt deswegen einen criminal record. Einmal griff ihn die Polizei betrunken auf; und die Verhandlung vor dem Schnellgericht schaffte es sogar in die Lokalzeitung: der vergilbte Zeitungsausschnitt sorgte für Heiterkeit beim Literary-Historical Salon im Hause Manning.
Diese Lappalien (möchte man meinen) aber wurden für Kurt, der ein Visum für die USA beantragt hatte , durchaus noch problematisch: Als er endlich in die Visa-Abteilung der Londoner Botschaft gerufen wurde, stellte ihm der Sachbearbeiter die Frage nach Vorstrafen. Glücklicherweise klingelte das Telefon, die Freundin des Botschaftsangestellten war dran. Nach dem Gespräch nahm der Mann den Faden nicht wieder auf und stempelte den lange ersehnten Visumsantrag ohne weitere Umstände ab.
Auf einem schwedischen Schiff erreichte Kurt 1946 New York. Der Immigrationsoffizier überrumpelte ihn mit der Frage, wie er denn von nun an heißen wolle. Er wählte sich, unter Bewahrung der originalen Initialen: Kent Roger Manning.
Seine Schwester Eva lebte in Chicago; dorthin fuhr er zuerst. Bald fand er Arbeit als Ingenieur in Jackson, Michigan. Bei dieser Firma blieb er, mit einer bedeutenden Unterbrechung, bis zur Rente.
Kent (obwohl noch nicht einmal US-Bürger) wurde zur US Army eingezogen, war schon eingeschifft Richtung Korea, wurde aber »last minute« wegen seiner mathematischen und Sprachkenntnisse nach Fort Bliss in Texas versetzt. Und dort traf er den Mann, der die V2-Raketen konstruiert hatte, die auf London geschossen wurden, während Kent dort lebte: Wernher von Braun. Dessen Team arbeitete nun für die Amerikaner. Und eines Tages erhielt Kent die Aufgabe, den optimalen Startzeitpunkt für den Flug eines Raumschiffs zum Mond zu ermitteln (vereinfacht ausgedrückt). Er rechnete drei Monate an dem Problem, fand eine Lösung, ging zu Braun, sagte »Herr Professor, ich hab’s gefunden«. Braun, so schreibt Kent auch in seinen getippten Erinnerungen, sprang aus dem Sessel, sagte »Gratuliere!« und umarmte ihn.
»Das war wohl die wichtigste und interessanteste Ingenieursaufgabe meines Lebens«, sagt Kent. Oh ja: Wenn man’s ein bisschen weiterspinnt, dann hat er dazu beigetragen, dass Neil Armstrong Jahre später auf dem Mond herumspazierrn konnte…
Was bei Kent unfehlbar beeindrucken muss (und ich hatte das Gefühl, nicht nur mich) ist dieser entschlossene Pragmatismus in Verbindung mit einem ausgeprägten Selbstvertrauen. Er zeigte dies schon als 13-jähriger allein in England; als Student in London, ab 1943, als seine Mutter nach einem Selbstmordversuch in Theresienstadt starb, ein Vollwaise; dann als der junge Mann, der in die USA emigrierte, Karriere machte, eine Familie gründete – immer zielstrebig und den Blick fest nach vorne gerichtet.
Und das offenbar bis heute mit sich und seiner Geschichte im Reinen, ohne spürbaren Groll und Gram, auf wen auch immer. Bewundernswert – und für mich immer noch ein wenig rätselhaft.