Bei Mannebergs Erben in Chicago (I)
Er hat so eine Art den Kopf geneigt zu halten, wie man es auf Fotografien seines Vaters erkennt, heißt es in der Familie. Stimmt, jetzt kann ich es auch sehen. Es ist kurz vor Weihnachten 2011, ich bin nach Chicago geflogen, um den Sohn und die Enkel einer Romanfigur zu treffen. Diese Reise bringt die seltsamste, die herzlichste, die anrührendste Begegnung mit Menschen, die – kaum mehr vorstellbar– mir einmal fremd gewesen sind. Zumindest, bis die erste E‑Mail aus Chicago kam.
Als Schriftsteller, im vollen Fluss des Schreibens, ist man oft einsam, aber nie allein. Romanfiguren umkreisen einen wie den Saturn die Monde. Manche reden mit, einige stellen sogar Forderungen. Manchen möchte man lieber nicht begegnen. Anderen schon.
Ismar Manneberg, ich will dich etwas fragen. Warum hast du deinen Kopf hingehalten, als Front-Offizier im Ersten Weltkrieg? Du, als Jude, der doch wusste, was Antisemitismus ist. Wolltest du »deutsch« sein, vielleicht deutscher noch als alle anderen?
Im Roman Der Spiegelkasten ist ein »Ismar Manneberg« die Hauptfigur; eine Fiktion, natürlich, ein Kompositum aus dem realen Manneberg (1883 bis 1924) und meinem Großonkel Ludwig Rechenmacher (1883 bis 1977), genauer: aus Versatzstücken von deren Biographien. Für »meinen«, den Roman-Manneberg endet die Geschichte 1919 im revolutionären München, kurz bevor die Reichstruppen »die Ordnung« wiederherstellen. Damit könnte man ja das Buch zuklappen. Aber die Geschichte des Mannes faszinierte mich weiter.
Ismar Manneberg, warum bist du, der einer zionistischen Organisation angehörte, nicht nach dem Krieg nach Palästina ausgewandert? Trotz der demütigenden Judenzählung, der antisemitischen Dolchstoßlegende, hast du dich wieder als Rechtsanwalt in Schlesien niedergelassen. Was für eine Zukunft, hast du geglaubt, wird dein Sohn Kurt Raphael in Deutschland haben?
Dieser Kurt Manneberg ist jetzt 88 und nennt sich, seit er 1946 in die USA emigrierte, Kent Roger Manning, Initialen K R M. Er lebt mit seiner Frau Barbara in einer Wohnung voller Kunst im Gold Coast Viertel von Chicago. Dort versammelt sich am Sonntag nach meiner Ankunft die Familie, um die Fotoalben (mit denen diese ganze Geschichte eigentlich anfing) und andere Dokumente, die ich mitgebracht habe, zu betrachten. Kurts Tochter Susan, die »Familienhistorikerin« (im Hauptberuf Professorin für die Geschichte des Tanzes) präsentiert die Briefe, die zwischen Kurt, seiner Schwester Eva und seiner Mutter Susanne hin- und hergingen. Alle sind gespannt – und auf typisch amerikanische Art entspannt. Kurt genießt es, im Mittelpunkt zu stehen. Ich sehe zum ersten Mal das Hochzeitsbild von Susanne und Ismar; er trägt die Uniform. Enkel Theodore holt sich eine Lupe, um die Fotos in den Alben genauer zu studieren, sagt immer wieder: amazing – erstaunlich.
Meine Recherchen zum Spiegelkasten haben den Mannings ein Fenster in ihre eigene Familiengeschichte geöffnet. Vieles ist nach wie vor unbekannt, wird es vielleicht immer bleiben. Manches aber ist ergänzt, zurechtgerückt. Bevor die Nazis mich abholen, bringe ich mich um, soll Susanne gesagt – und auch getan haben, bevor es soweit kam. Das hatte Kent erzählt, aber es gab Zweifel. In der Tat war sie in einem der letzten Transporte von Breslau nach Theresienstadt. Sie starb dort im Sommer 1943 – angeblich, laut dem jetzt entdeckten Totenschein, an einer »Lungenentzündung«. Allerdings steht dort auch, im Feld »Krankheit«: Selbstmordversuch (Veronal). Vielleicht wusste sie, was nach Theresienstadt folgen würde?
Manche in der Familie glauben, sie sei wegen ihrer Schwester Lizzie (sie gingen gemeinsam nach Theresienstadt; Lizzie wurde in Auschwitz ermordet) in Breslau geblieben. Oder weil sie dort mithalf, die Kindertransporte zu organisieren, um anderen Kindern zu ermöglichen, was sie ihrem Sohn Kurt schon 1936 ermöglicht hatte: Zuflucht in Großbritannien. Oder weil sie annahm, man würde sie verschonen, weil sie die Witwe eines dekorierten Offiziers des Ersten Weltkriegs war?
Kent Manning besitzt auch einen deutschen Pass. Nach der letzten Seite eingeklebt ist die Fotokopie einer Notiz aus einer schlesischen Lokalzeitung, ca. 1916, hier rechts abgebildet. Und das ist durchaus trotzig gemeint.
»Ich bin stolz auf meinen Vater«, sagt Kent, »er war ein Held.«
Das ist eine Sache, die ich Ismar wohl nicht fragen müsste: Ob er auf seinen Sohn stolz wäre. That goes without saying…
Es ist vielleicht der Jet Lag, aber irgendwann an dem Sonntag mache ich den Mund auf, will Kurt/Kent etwas fragen, fühle, wie da der Name Ismar auf der Zunge bereit liegt – und kriege gerade noch die Kurve.
(…wird fortgesetzt)
* Text zum Zeitungsausschnitt:
Wie wir bereits früher meldeten, wurde der Rechtsanwalt Dr. Manneberg aus Oppeln, Oberleutnant und Kompagnieführer in einem bayerischen Infanterieregiment, mit dem Eisernen Kreuz erster Klasse ausgezeichnet. Er war bereits Inhaber des Eisernen Kreuzes zweiter Klasse und der Bayerischen Verdienstmedaille mit Schwertern. Das Eiserne Kreuz erster Klasse erhielt er für seine aufopfernde Pflichttreue, Tapferkeit und umsichtige Kompagnieführung bei der großen Frühjahrsoffensive der Franzosen bei Arras vom Mai bis Juni 1915. Am Jahrestage der Abwehr der wütenden Angriffe der Franzosen, am 9. Mai 1916, wurde ihm das Kreuz persönlich von dem Kronprinzen Rupprecht von Bayern überreicht.