Vergessener Krieg? Nicht in Großbritannien.
Schon früh in der Recherche zum »Spiegelkasten« fiel mir auf, dass deutsch(sprachig)e Sachbücher über den Ersten Weltkrieg häufig entweder hochakademisch oder uralt sind – meist aus den 1920er und 30er Jahren stammen und aus der oft glorifizierenden Perspektive der Veteranenverbände geschrieben sind.
In englischer Sprache dagegen gibt es eine Fülle an moderner und populärer Sach-Literatur über den »Great War«, die man in jeder Bahnhofsbuchhandlung erwerben kann. In dem auf Militärhistorie spezialisierten Pen & Sword-Verlag publiziert auch der ehemalige britische Berufssoldat Jack Sheldon (Webseite), ein anerkannter Experte für die deutsche Armee im Ersten Weltkrieg. Ich fragte ihn nach der britischen Sicht auf den »Großen Krieg«.
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Gespräch mit dem Militärhistoriker Jack Sheldon
Glauben Sie, dass der Erste Weltkrieg in Deutschland in gewisser Weise vergessen ist, oder überschattet durch andere Ereignisse?
Soweit es die militärischen Aspekte betrifft, ist das sicher über die vergangenen 70 Jahre so gewesen. In letzter Zeit mehren sich aber die Zeichen dafür, dass einige Forscher sich die deutsche Militärgeschichte dieser Zeit wieder vornehmen wollen. Ich denke insbesondere an Dr. Alex Fesse, dessen Dissertation »Im Zeichen des Tankdrachens« eine ausgezeichnete Untersuchung der frühen deutschen Panzerabwehr-Maßnahmen darstellt, oder an Dr. Christian Stachelbeck vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam, dessen Buch »Militärische Effektivität im Ersten Weltkrieg« die ganze, reiche Fülle mancher Archivbestände in Deutschland bezeugt.
Und aus welchem Grund?
Ich neige dazu, dies auf die verständlichen Schwierigkeiten zurückführen, die viele Deutsche immer noch damit haben, ihre Geschichte zu bewältigen: welche natürlich einen stark ausgeprägten militärischen Aspekt hat. Manche mögen wohl nach wie vor wünschen, 1945 sei wirklich die »Stunde Null« gewesen, aber das war sie nicht. Es scheint, dass auch im heutigen Deutschland alles, was irgendwie mit der Nazi-Zeit in Verbindung steht, auf alle Zeiten mit einem Makel versehen ist. Und das beinhaltet unvermeidlich alle früheren Angehörigen der alten deutschen Armee, die gemeinsame Sache mit Hitler machten. Deshalb ist alles verdächtig, was mit den Armeen zu tun hat, die 1914 bis 18 für die Mittelmächte kämpften. Ich würde es begrüßen, wenn die kommenden Jahrzehnte hier eine Veränderung brächten.
Welche Haltung nehmen die Briten zum Ersten Weltkrieg ein?
Die Briten betrachten den Ersten Weltkrieg durch die Linse ihrer erlittenen Verluste. Etwa 750,000 Männer wurden getötet und noch viel mehr verstümmelt, vornehmlich an der Westfront. Das war völlig neu für eine Nation, die keine allgemeine Wehrpflicht gekannt hatte und deren Macht und Sicherheitsbedürfnis auf die Vorherrschaft über die Weltozeane durch die Königliche Marine gegründet war (wodurch sich natürlich erklärt, warum der Tirpitz-Plan als direkte und inakzeptable Herausforderung des Vereinigten Königreichs gesehen wurde [Tirpitz-Plan: die massive Aufrüstung der deutschen Kriegsmarine, Anm. CP]). Folglich wird dieser Krieg nach wie vor als die größte Tragödie der britischen Nation angesehen.
Ist das der Grund, warum die Briten den Ersten Weltkrieg den »Großen Krieg« nennen?
Nach dem Krieg suchten die Briten nach einer Rechtfertigung für die riesigen Opferzahlen. Formulierungen wie »der Krieg, der die Welt für die Demokratie sicher macht« oder »der Krieg, um mit allen Kriegen Schluss zu machen« kursierten, bis sich schließlich »Der große Krieg für die Zivilisation« durchsetzte. In diesen Krieg waren Massen von Menschen verwickelt. Jede Familie im Land war auf die eine oder andere Weise betroffen, und deswegen besuchen noch immer enorm viele die Schlachtfelder in Frankreich und Belgien, vor allem, um zu sehen, wo ihre Vorfahren kämpften und starben. Bis heute erfahren die Kinder in der Schule darüber und machen Exkursionen zu diesen historischen Stätten. So besuchen mehr als 250,000 Menschen pro Jahr das Vermisstendenkmal der Somme-Schlachten bei Thiepval und tausende finden sich übers Jahr zu dem Salut ein, der jeden Abend am Menin-Tor in Ypern (Belgien) erklingt.
Was fasziniert Sie persönlich am Ersten Weltkrieg?
Ich war mein gesamtes Arbeitsleben lang Berufssoldat und Infanterist. Das Interesse am Ersten Weltkrieg wurde geweckt, als ich die Geschichte meines Regiments erforschte. Besuche der Westfront vor über 30 Jahren verstärkten mein Interessen an den Leistungen der alten Deutschen Armee, weil ich mehr wissen wollte über die Männer, die so oft meinen Vorgängern auf dem Schlachtfeld zugesetzt hatten – in Mons und Le Cateau, an der Aisne, im Ypern-Bogen, um Arras und an der Somme. Über die Jahre fand ich viele der Antworten in den Archiven von München, Freiburg und Stuttgart und in den Geschichtsbüchern aus der Zwischenkriegszeit. Diese bilden die Grundlage meiner Arbeit, mit der ich versuche, die Kriegführung der alten deutschen Armee dem englischsprachigen Publikum näherzubringen.
Was halten Sie von dem Europeana-Projekt?
Alles, was die Schatten des Ersten Weltkriegs etwas ausleuchtet, ist mir willkommen, aber ich hoffe doch, dass es sich nicht ausschließlich auf die sozialen und kulturellen Umstände dieser Epoche beschränkt. Die militärische Geschichte ist mindestens so wichtig, wenn nicht wichtiger. Einer der wichtigsten Nutzen, den es bringen könnte, wäre es, alle deutschen Regiments- und Divisionsgeschichten sowie anderes geschichtlich Relevantes aus der Zwischenkriegszeit online verfügbar zu machen. Man sollte auch überlegen, zumindest einige ausgewählte Objekte aus den verbliebenen Archiven zu digitalisieren. Das würde die Arbeit von Forschern erleichtern und in der Öffentlichkeit die Wahrnehmung der Fähigkeiten und Leistungen ihrer Vorfahren auf dem Schlachtfeld zu erhöhen. Man sollte sich nicht schämen, ihre rein soldatischen Tugenden anzuerkennen, welche eine historische Tatsache sind.
Interview with Jack Sheldon
Q. Do you think that, in Germany, WWI is somehow forgotten or overshadowed by WW2?
A. As far as its military aspects are concerned, it has certainly been neglected during the past seventy years. Recently, however, there have been welcome signs that some scholars are prepared to re-examine the German military history of the period. Here I am thinking in particular of Dr. Alex Fasse, whose doctoral thesis »Im Zeichen des Tankdrachens« is a superb examination of early German anti-tank defence measures and also of Dr. Christian Stachelbeck of the Militärgeschichtliches Forschungsamts, Potsdam, whose book »Militärische Effektivität im Ersten Weltkrieg« is a demonstration of the richness of some of the archival holdings in Germany.
Q. What is the reason?
A. I am bound to say that I think that this is connected with the understandable difficulties many German people have in coming to terms with their past: which of course includes a large military element. Whilst there may be a continuing desire amongst some to wish that 1945 really was the »Stunde Null« of German history, it was not. It seems that, in modern Germany, anything connected with the Nazi era and, inevitably, this includes all former members of the old German army who threw in their lot with Hitler, is tainted for all time. By extension, therefore, everything associated with the armies who fought for the Central Powers from 1914 – 1918 is suspect. I should like to think that the approaching centenaries might lead to a change of heart.
Q. Does the situation in the United Kingdom differ from that in Germany?
A. The British view the First World War through the prism of the casualties they suffered. About 750,000 men were killed and many more maimed – primarily on the Western Front. This was utterly unprecedented for a nation which had never known conscription and whose power and sense of security was bound up in domination of the world’s oceans by the Royal Navy (which, of course, explains why the Tirpitz Plan was seen as direct and an unacceptable challenge to the United Kingdom). As a result, this war continues to be seen as the greatest tragedy in its history.
Q. Is this why the British call it »The Great War«?
A. Post war the British searched to seek a justification for the scale of human sacrifice involved. Phrases such as, a ‘war to make the world safe for democracy’ or the ‘war to end all wars’ gained currency and it was eventually seen as ‘The Great War for Civilisation’. This was a war of mass participation. Every family in the land was touched in some way by it and, as a result, enormous numbers continue to visit the battlefields of Belgium and France in particular to see where their ancestors fought and died. To this day school children are taught about the war and are taken to visit the historic sites. As a result there are more than 250,000 visitors per annum to the Memorial to the Missing of the Somme at Thiepval and countless thousands each year attend the daily ceremony of sounding the Last Post at the Menin Gate in Ypres.
Q. What is your personal fascination with WW1?
A. I was a professional soldier and infantryman throughout my working life and became interested in it as a result of studying the history of my regiment. Visits to the Western Front over thirty years ago fired my interest in the exploits of the old German army, because I wanted to know more about the men who had so often mauled my predecessors on the battlefield – at Mons and Le Cateau, on the Aisne, in the Ypres salient, around Arras and on the Somme. Over the years I have found many of the answers in the archives at Munich, Freiburg and Stuttgart and in the histories published between the wars. These form the basis of my work as I seek to portray the actions of the old German army to the Anglophone audience of today.
Q. What do you think about the Europeana Project, that has recently been launched also in Germany?
A. I welcome anything which will cast more light into the shadows of the First World War, but I do hope that it does not concentrate exclusively on the social and cultural aspects of the period. The military history of the war is equally important, if not more so. One of the most useful services it could deliver would be to place online, all the German regimental, divisional and other histories published between the wars and also give consideration to the digitisation of at least selected items from the surviving archives. This would make the work of research scholars easier and increase public awareness of the skills and battlefield performance of their ancestors. There should be no shame in recognising their purely soldierly virtues, which are a matter of historical fact.