Der Fall Eulenburg
Der »Fall Eulenburg«, eine Justiz- und Mediensensation derausgehenden Kaiserzeit, spielt im »Sandkorn« eine Rolle. Heute, als ich diesen Beitrag beginne, lese ich auf Spiegel Online:
Ex-Nationalspieler: Thomas Hitzlsperger macht Homosexualität öffentlich (Link)
Na, große Sache – aus unserer modernen und aufgeklärten Sicht: Wir haben schwule Außenminister, Fernsehköche, Bürgermeister. Flugbegleiter sind sowieso alle schwul, oder? Nun also ein (Ex-)Fußballer. Für den farbentragenden FCB-Südkurvler vielleicht ein Problem, aber sonst? Wenn’s nur die wären.

Szenen aus dem Moltke-Harden-Prozess (Illustration aus dem »Simplicissimus«, von Ernst Heilemann). Quelle: simplicissimus.info
Eulenburg war Opfer einer Medienkampagne, Opfer eines Besessenen. Dieser hieß Maximilian Harden, ein Journalist und Herausgeber seinen eigenen Blattes, der »Zukunft«. Dieses Blatt benutzte er, um Eulenburg und andere zu demontieren. Unter zunächst dahingetuscheltem Hinweis auf deren sexuelle Orientierung. Weil er – antischwul eingestellt war? Eher nicht. Auch er hat sich nie geoutet.
Aber Harden war ein Nationalist, ein Verehrer des »Eisernen Kanzlers« Bismarck, den Wilhelm 1890 abserviert hatte. Er träumte von deutscher Weltgeltung: Kolonien, Panzerkreuzer auf allen Weltmeeren, deutsche Kultur tonangebend. Und dann umsummsen den Kaiser diese… Männerfreunde und flüstern ihm womöglich alles Mögliche ein. –
Aus dem Bericht über Hitzlspergers Coming Out:
Der Profisport sei ein absolut harter Leistungssport: »Kampf, Leidenschaft und Siegeswille sind untrennbar miteinander verknüpft«. Das passe nicht zu dem Klischee, das sich viele Leute von einem Homosexuellen machten, nämlich: »Schwule sind Weicheier.«
Genau das gleiche fürchtete Harden. Denn Politik ist eine absolut harte Angelegenheit. Das geht einfach nicht, dass diese »Liebenberger Tafelrunde« (nach Eulenburgs Stammsitz) am Reichskanzler vorbei Politik macht! Weiß man doch: Die wollen den Streichelzoo, und nicht die eiserne Faust. Pazifisten, Franzosenfreunde.
Harden handelt. Sein Blatt »Die Zukunft« hat kleine Auflage, ist Intellektuellenfutter. Wenn er die Massen für sein Thema begeistern will, braucht er keine feinsinnigen politischen Analysen. Da muss er den ganz großen Hebel ansetzen.
Hardens Kampagne
Im Visier Hardens ist auch der Berliner Stadtkommandant Kuno Graf Moltke, ebenfalls ein Mann der »Tafelrunde«. Moltkes Ex-Frau Lily hatte schon früher mit Harden über ihren in Unfrieden geschiedenen früheren Mann, dessen Freund Eulenburg und das Unaussprechliche geplaudert. Auch Bismarck hatte ihm Vertrauliches über die beiden berichtet. Harden ist ein geduldiger Sammler. Er wartet. Jahrelang. Bis zum 17. November 1906, als er in der »Zukunft« erstmals Andeutungen über Eulenburg macht. Verschlüsselt, blumig – aber die die’s wissen sollen, verstehen es. Eulenburg geht erst einmal ins Exil. Kommt aber zwei Monate später zurück, um an der Jahresfeier der »Ritter vom Schwarzen Adler« teilzunehmen. Das versteht Harden als Provokation. Er setzt die Angriffe gegen Moltke und Eulenburg fort. Aufgeschreckt durch die einsetzende Pressekampagne entzieht Kaiser Wilhelm den beiden Höflingen die Gnade. Moltke will Harden duellieren, aber der will nicht. Darauf verklagt Moltke, inzwischen außer Dienst, Harden wegen Beleidigung. Im Oktober 1907 beginnt der erste Prozess. Für das weitere: siehe »Sandkorn«.
Im Fall des Fußballspielers, über 100 Jahre später, liest man die Schlagzeile:
Bundesregierung lobt Coming-Out von Thomas Hitzlsperger (Link).
Kanzlerin Merkel lässt das ihren Sprecher sagen: aber immerhin. So ändern sich die Zeiten…