Wer die bessere Geschichte hat, gewinnt.

Wann ist ein Roman »historisch«?

Warum wir einen neuen Begriff brauchen. Oder gar keinen.

Wann ist ein Roman his­to­risch? Glaubt man man­chen Kri­ti­kern: Wenn er schlecht ist. Oder wenn er eben nicht »gegen­wär­tig« ist. (Nur dau­ert die Gegen­wart in der aka­de­misch-feuil­le­to­nis­ti­schen Lite­ra­tur­ge­schich­te bereits seit 1945 an – an die 70 Jah­re. Hmmm, ziem­lich lan­ge.) Oder ist ein Roman his­to­risch, wenn die Haupt­per­so­nen »Wäm­ser« tra­gen und sich gegen­sei­tig mit »Gevat­ter« oder »lie­be Base« anre­den, wenn sie gar »etwas dünkt«. Aber das ist bloß eine anti­quier­te Spra­che. Oder was der Autor/die Autorin dafür hält.

Es gibt schlech­te his­to­ri­sche Roma­ne, kei­ne Fra­ge. So absur­de Din­ger wie »Die Wan­der­hu­re«. Bücher, in denen his­to­ri­scher Kon­text blo­ße Kulis­se ist, in die ein Plot und ein paar Figu­ren gestellt wer­den. Brüns­ti­ge oder wenigs­tens inbrüns­ti­ge Pil­ger. Auf der Buch­rück­sei­te heißt es typi­scher­wei­se: Perugia, 1718: Die blut­jun­ge Magd Isa­bel­la flieht vom Dorf in die Stadt… Aber genau­so­gut könn­te dort ste­hen: Pader­born, 1805: Die blut­jun­ge Magd Kath­rin … Hier herrscht das Pit­to­res­ke, das Kli­schee, das end­los umge­wälz­te, alt­be­kann­te Bild, oft platt und öde ausgemalt.
Sol­che Bücher prä­gen das Gen­re und den Begriff »His­to­ri­scher Roman« (jetzt mit gro­ßem »H«). Des­we­gen wohl schrieb der Kri­ti­ker Burk­hard Mül­ler jüngst ein­lei­tend zu einer Rezen­si­on in der Süd­deut­schen Zei­tung, his­to­ri­sche (His­to­ri­sche?) Roma­ne sei­en »eigent­lich« was für zweit­klas­si­ge Autoren.
Das, mit Ver­laub, ist Unsinn und ein dif­fa­mie­ren­der Rund­um­schlag. Zweit­klas­si­ge Autoren, wenn man das schon so ein­tei­len will, schrei­ben alles mög­li­che und sind nicht aufs His­to­ri­sche abon­niert. (Des­sen Fas­zi­na­ti­on liegt wohl eher dar­in, dass man die ewig glei­chen Stü­cke immer wie­der in ande­ren Kos­tü­men und Kulis­sen auf­füh­ren kann.)

Gute his­to­ri­sche Roma­ne gibt es natür­lich auch. Ste­fan Zweig schrieb eini­ge, Sir Wal­ter Scott tat es, »Bud­den­brooks« ist eine Mehr­ge­nera­tio­nen-Erzäh­lung – also his­to­risch? Ian McE­wans »Am Strand«, die Sto­ry einer ver­korks­ten Hoch­zeits­nacht in Eng­land 1962 – die Sexu­al­mo­ral kommt uns stein­zeit­lich vor, selbst wenn man zögert, das Buch als his­to­ri­schen Roman ein­zu­ord­nen. Auch T. C. Boyles aktu­el­ler Roman, »San Miguel«, den Mül­ler in sei­ner Rezen­si­on sehr lobt, ist einer.  E. L. Doc­to­row schreibt über his­to­ri­sche The­men (»The March«, »Bil­ly Bath­ga­te«, »Homer and Lan­gley«) – in den USA käme kei­ner auf die Idee, ihm das vor­zu­hal­ten oder über einen »his­to­ri­schen Roman« die Nase zu rümp­fen.[1]
»Die Ver­mes­sung der Welt« war einer, obwohl der nicht unter »His­to­ri­scher Roman« lief.[2] Die Haupt­fi­gu­ren reden sogar ziem­lich alt­frän­kisch daher, aber – Kehl­manns raf­fi­nier­ter Kniff – sie tun das alles in indi­rek­ter Rede: Kehl­mann kann Kon­junk­tiv – die Schrei­ber nor­ma­ler »His­to­ri­scher Roma­ne« nicht. Oder sie wol­len das ihren Lesern nicht zumuten.

Cromwell ohne Wams

Wenn man schon alles in Schub­la­den ste­cken muss, dann soll­te man es machen wie die Eng­län­der: Die unter­schei­den zwi­schen His­to­ri­cal Romance (»Wan­der­hu­re« etc) und His­to­ri­cal Novel.
In die­ser letz­te­ren Kate­go­rie bril­liert die­ser Tage Hil­ary Man­tel mit ihren bei­den Tho­mas-Crom­well-Roma­nen. [3] Aller­dings: alles »His­to­ri­sche« löst sich ele­gant von die­sen Geschich­ten ab; weil es ohne­hin aufs not­wen­di­ge Maß redu­ziert ist und nicht dem Effekt oder dem Kolo­rit dient. Nach ein paar Sei­ten hat man Crom­well selbst – sozu­sa­gen ohne Wams – vor sich, den Ex-Söld­ner, Empor­kömm­ling, den Strip­pen­zie­her. Dass er vor 400 Jah­ren leb­te – das wird bald mal egal. Beim Lesen von (guten) Büchern ist man immer im Jetzt.

Zusam­men­fas­send: wenn also h/Historische Roma­ne der kri­ti­schen Ver­dam­mung ent­ge­hen wol­len, dann müs­sen sie

  • ent­we­der kei­ne sein (oder so tun, als sei­en sie keine)
  • oder gut sein.

Man soll­te auf Eti­ket­tie­run­gen ver­zich­ten. Oder zumin­dest aner­ken­nen, dass ein »his­to­ri­scher« (was immer das sein mag) Gegen­stand einen Roman nicht auto­ma­tisch zum Trash oder sonst­wie ver­däch­tig macht.

CP, Okto­ber 2013

 

Anmer­kun­gen    (↵ returns to text)
  1. Auf dem Titel­blatt von »The March« steht auch nur »A Novel«. 
  2. Als ich mein ers­tes Buch (»Die Welt ist im Kopf«) dem Rowohlt-Ver­lag anbot erhielt ich eine freund­li­che Absa­ge: aber »his­to­ri­sche Roma­ne« mach­ten sie nicht. Nun ja. Dort war die »Ver­mes­sung der Welt« erschie­nen und kurz zuvor Walsers Goe­the-Roman).
  3. »Wolf Hall« und »Bring Up the Bodies«, deutsch: »Wöl­fe« und »Fal­ken«.


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