Geschenkt
Zur Sprachvergessenheit der deutschen Literaturkritik
Seitdem ich Literaturkritiken lese, wundere ich mich, wie wenig, wie oberflächlich von Sprache die Rede ist.Deswegen, aus aktuell-chronischem Anlass, eine Anmerkung.
Geschenkt?
Kürzlich in der Literaturbeilage einer großen deutschen Zeitung gelesen:
»Dass [Name des Schriftstellers] Stil gelegentlich Holprigkeit mit Drive verwechselt (…): geschenkt.«
Wie großzügig.
Ob der Rezensent, wenn er fein essen geht, schreiben würde: »Dass der Stil des Küchenchefs gelegentlich Verkohlen mit scharf Anbraten verwechselt, al dente mit breiweich, pikant gewürzt mit versalzen: geschenkt«?
Wenn solch Verzicht in der Kulturkritik um sich greift, können wir demnächst wohl mit der Rehabilitation eines jungen Malers rechnen, der in Wien und München vor dem Ersten Weltkrieg bieder-schiefe (um nicht zu sagen: holprige) Aquarellpostkarten an den Mann zu bringen versuchte. Korrekte Perspektive? Geschenkt!
Das ist die Passage, die der Rezensent dem Schriftsteller gönnerhaft durchgehen lässt:
»Robert saß hinten im Wagen. Da er, wie Kudowski mit einem Lächeln bemerkt hatte, der Schmalere von ihnen beiden war. Kudowski selbst saß vorne. Neben Annina. Die den Suzuki steuerte.«
Finde ich auch nicht großartig (»Kudowski selbst saß vorn« – schonmal unselbst vorn gesessen?).
Das eigentliche Skandalon ist das herablassende »geschenkt«. Es scheint mir auszudrücken: Kommt doch eh nicht darauf an, wie einer sagt, was er sagen will: geschenkt. Doch entweder ist dieses Zitat aus dem Text für den argumentativen Gang der Rezension von Bedeutung oder nicht. Wenn nicht, warum steht es da? Wenn doch, warum einzig dieses verächtliche »geschenkt«, und keine Auseinandersetzung mit den Einzelheiten?
Bloß ein rhetorischer Kniff, damit der Rezensent weitereilen kann zu dem, was er für das eigentliche Problem des Textes hält? Möglicherweise. Ein bisschen billig, falls.
Eindeutig?
Selbe Beilage, noch eine Fundstelle.
»Auf die Frage ›Warum erfindet man Geschichten?‹ gibt er [der Protagonist des Romans] die eindeutige Antwort: ›Um keine Geisel der Zeit mehr zu sein.‹ «
Sätze wie den letzten nenne ich Cornflake-Sätze. Die müssen schnell runter, damit sie noch bedeutungsvoll knuspern. Behält man sie zwecks genauerer Geschmacksprüfung ein paar Momente auf der Zunge, werden sie weich und pampig.
Auch dieser ist keineswegs eindeutig, wie Rezensentin meint: Das Kollektiv-Individuum (»man«) gegen das mit einer Intention ausgestattete ganz große Abstraktum (»Zeit«)! Das sind schwere Worte, sowas ist immer delikat, eher die Domäne der Dichter.[0]
Mal näher betrachtet: Der Geschichtenerzähler als Geisel der Zeit. Gegen wen oder was will »die Zeit« diese ihre Geisel austauschen? Bei wem? Was hätte sie denn von dem Deal? In den vielen Jahrtausenden des Geschichtenerzählens dürfte sie bereits eine Menge Geiseln angesammelt haben, die es immer noch nicht ins Zeitlose geschafft haben. (Vielleicht erhoffen manche der Geiseln einen Freikauf durch einen Verleger.)
Es ist doch eher der Erzähler, der sich da mit einer Geschichte freikauft. Ausgerechnet mit einem in die Zeit gebetteten, echt sequentiellen Anfang-Mitte-Ende-Pfand?
Vom metaphorischen Heißdampf entlüftet, schrumpft mir der Satz auf eine Formulierung wie: »Um (wenigstens eine zeitlang) kein Gefangener der Langeweile zu sein«.[1]
Also um keine Geisel der Zeit mehr zu sein, erzählt man Geschichten. Ich bin nicht überzeugt, ich kaufe diesen Satz nicht: deutlich überpreist. Wer hätte das merken können? Der Autor, bei einer Überarbeitung seines Textes. Wenn nicht er, dann sein/e Lektor/in. Wenn die nicht, die Rezensentin. Wenn – die Feinheiten der Sprache etwas bedeuteten. Aber, siehe oben: geschenkt. Es gilt nicht das geschriebene Wort, sondern das, äh, Gemeinte, ganz »eindeutig« – und über dieses Wort bin ich hier gestolpert.
Vielleicht bin ich kleinlich. Vielleicht probierte jener Autor eine ganze Nacht lang, ob es heißen muss: Kudowski saß vorne. Oder: Kudowski selbst saß vorne. Ich finde, es kommt auf jedes Wort an, jedes das drin ist, jedes das raus gehört.
Wo jedes Wort zählt
Mitte 2011 erschien ein Essayband des britischen Literaturkritikers James Wood in deutscher Übersetzung – mit dem Titel, irgendwie typisch, »Die Kunst des Erzählens«, brav abgenudelt und meilenweit entfernt vom Originaltitel »How Fiction Works«. Denn genau das versucht Wood zu erklären, nämlich wie fiktionales Erzählen im Roman funktioniert. Auf durchaus mechanistische Weise arbeitet er sich an den Kleinigkeiten ab, der Auswahl von Detail, der Figurenzeichnung, der Perspektive, …
Er tut das auch seit einigen Jahren in seinen Rezensionen für das Magazin »The New Yorker«, und zwar in einer Art von reverse engineering: Zerlegen, um zu verstehen. Er lässt sich ein auf die Sprache der Autoren, er zitiert ganze und lange Absätze aus ihren Büchern, er dreht und wendet, brütet über einzelnen Worten – um zu zeigen und zu belegen.[2] Aber sicher nicht, um am Ende anzumerken: geschenkt. Auch die Anmaßung eines »eindeutig« wird man nicht bei ihm finden.
Ich finde nicht, dass Wood immer Recht hätte; wie auch. Aber er bemüht sich a) um die Autoren und ihre Sprache und b) um – sowas gibt’s – um seine (nämlich Woods) Leser/innen.
Die deutsche Literaturkritik begrüßte das Buch des »berühmtesten Literaturkritikers der Welt« (Die Zeit) übrigens freundlich bis begeistert. Von ihm lernen will offenbar keiner. Das ist schade, denn damit entgeht uns allen, die wir Literatur mögen, etwas.
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Nachtrag. Beispiel einer rühmlichen Ausnahme: Hier zerlegt der Literaturkritiker Peter Dierlich einen Roman von Martin Mosebach in seine papiernen Einzelteile.
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- Es gibt ein sehr probates Mittel/die Zeit zu halten am Schlawittel/Man nimmt die Taschenuhr zur Hand/und folgt dem Zeiger unverwandt (…) – Christian Morgenstern, ganz unpathetisch).↵
- Der ganze Kontext ist natürlich inspiriert von »1001 Nacht«: Die arme Schehezarade brauchte bekanntlich einen Haufen Geschichten mit zeitlich exakt platzierten Cliffhangern (drei Kinder musste sie außerdem gebären), um sich aus dieser wahrhaftigen Geiselhaft zu befreien. Ach was, »befreien«: Es endete stockholmsyndromhaft mit der Ehelichung des Geiselnehmers.↵
- Ein Beispiel aus der Panorama-Rezension zu Hilary Mantels historischen Cromwell-Romanen (The New Yorker, 7. Mai 2012). Zunächst das Zitat aus dem Roman, dann was Wood dazu zu sagen hat.
»This season young men carry their effects in soft pale leather bags, in imitation of the agents for the Fugger bank, who travel all over Europe and set the fashion. The bags are heart-shaped and so to him it always looks as if they are going wooing, but they swear they are not. Nephew Richard Cromwell sits down and gives the bags a sardonic glance.«
Do you know if Mantel has manufactured or borrowed from the record this information about the fashionable Fugger bag? In some sense, it doesn’t matter, because the writer has made a third category of the reality, the plausibly hypothetical. It’s what Aristotle claimed was the difference between the historian and the poet: the former describes what happened, and the latter what might happen.↵