Wer die bessere Geschichte hat, gewinnt.

Gegenwartsliteratur… was ist das denn?

Hät­te ich mich wahr­schein­lich nie gefragt, wenn ich nicht anläss­lich des 2. Münch­ner Lite­ra­tur­fests auf ein Podi­um gela­den wor­den wäre, bei dem es eben um eine Stand­ort­be­stim­mung der »Gegen­warts­li­te­ra­tur« gehen soll­te. Wie die­se Dis­kus­si­on lief, beschreibt Lino Wirag im fab­muc-Blog unter dem durch­aus ange­mes­se­nen Titel Platt­ge­bü­gelt vom Feuil­le­ton. Hier aber mal mein Text – soweit ich mich erin­ne­re, mein aller­ers­tes lite­ra­tur­theo­re­ti­sches Mani­fest seit Leis­tungs­kurs Deutsch…

Ja klar, was zur Gegen­warts­li­te­ra­tur, kein Pro­blem, hab ich mir gedacht. Ich bin aber doch bei der Begriffs­klä­rung hän­gen­ge­blie­ben. Naiv viel­leicht, aber Gegen­warts­li­te­ra­tur, das war für mich immer das, was uns zwei­mal im Jahr zehn­tau­send­fach vor die Füße gekippt wird. Was halt neu ist. Selbst wenn einer zehn Jah­re an sei­nem Werk gear­bei­tet hat: es zählt das Datum der Publikation.

Dann blät­te­re ich in der ZEIT und sehe die Wer­bung für einen Kur­sus auf DVD, „Deutsch­spra­chi­ge Gegen­warts­li­te­ra­tur seit 1945.“ Wie bit­te? 2011 minus 1945 = 66. Schon seit 66 Jah­ren ist Gegen­wart? Wie gesagt, ich bin naiv und ich stau­ne gern:
Also, Wirt­schafts­wun­der und Hartz 4, Mau­er­bau und Mau­er­fall, Baby­boom und Anti­ba­by­pil­le, Auschwitz­pro­zes­se und 68er, „Digi­tal Nati­ves“ und Tele­fon mit Wähl­schei­be, die Zeit vor und nach mei­nem ers­ten Per­so­nal Com­pu­ter, vor und nach Mobil­te­le­fon, die end­lo­sen Jah­re der Kohl-Kanz­ler­schaft, die Abschaf­fung des § 175, Schwarz­weiß-TV, Schlag­ho­sen, was noch alles… – das alles EINE Gegen­wart? Für mich ist das kon­train­tui­tiv, und es ent­spricht auch nicht mei­nem eige­nen, aller­dings nicht ganz 66jährigen, Erleben.

Und wie­so seit erst 1945? War­um nicht seit 1933? Solan­ge Gui­do Knopp im Zwei­ten Deut­schen Fern­se­hen wirkt, wird die Nazi­zeit für mich gegen­wär­ti­ger sein als mei­ne eige­ne Schul­zeit. Wenn schon will­kür­lich: 1918 oder 1914 gin­gen auch als Start­punkt, oder mei­net­we­gen gleich 1789. Das kann sich doch jeder aus­su­chen: Für die deut­sche Phi­lo­so­phie beginnt die Gegen­wart wohl mit Kant, für mich mit Scho­pen­hau­er, weil er dem Geist­we­sen Mensch noch sei­nen fins­te­ren Zwil­ling, sei­ne trieb­haf­te Kör­per­lich­keit beifügt.
Denn die Gegen­wart ist ein Echo­raum: Da hallt und raunt es ganz gewal­tig, aber meis­tens hört man nur das, was man selbst hin­ein­ge­ru­fen hat.

Mir kommt vor: „Gegen­warts­li­te­ra­tur“ ist ein Prä­di­kat, ein Invi­ta­ti­on-Only-Club. Die the­men- und kate­go­rie­zen­trier­te Lite­ra­tur­kri­tik ver­langt und hono­riert das Abar­bei­ten aktu­el­ler oder als aktu­ell emp­fun­de­ner Zu‑, Miss- und Rückstände:
Migra­ti­on, Demenz, Fami­lie, DDR, Pro­vinz, Mitt­vier­zi­ger in Prenzlberg, Allein­er­zie­hen­de, Kli­ma­ka­ta­stro­phe, Finanz­kri­se… da fehlt natür­lich was? Genau, der „Wut­bür­ger“ – hier ist er schon: Ges­tern beginnt Ijo­ma Man­gold in der ZEIT eine Buch­kri­tik mit dem Satz: „Kein Wert ist zur­zeit gesuch­ter und gefrag­ter auf dem lite­ra­ri­schen Markt als die Wut.“ Und Stem­pel drauf.

Gegen­warts­li­te­ra­tur“: Mit dem Begriff kann und mag ich nichts anfan­gen, ich kann ihn nicht gebrau­chen, selbst wenn er mit dem ESL-Attri­but daher­kommt, exten­ded shelf life, wie die län­ger halt­ba­re Milch im Kühl­re­gal. Und in ihrer greif­ba­ren Gän­ze kann ich sie gar nicht wahr­neh­men, die Gegen­warts­li­te­ra­tur, wenn ich selbst noch ab und zu zu den Bücher­mas­sen bei­tra­gen will.
Bit­te um Ver­ständ­nis für die dreis­te Unbe­schei­den­heit: Als Schrift­stel­ler inter­es­sie­re ich mich für die Ewig­keit, als Leser behaup­te ich: Die Gegen­wart von Lite­ra­tur liegt nicht in ihrer Ent­ste­hungs­zeit oder dem ‑zeit­raum, son­dern im Moment des Lesens. Wenn sie berührt, auf­rührt, auf jeden Fall nicht kalt lässt, ist es völ­lig egal, wel­che Jah­res­zahl dran­hängt. Und umge­kehrt kann das aktu­ells­te Buch pure Ver­nich­tung von Gegen­wart sein. Da lese ich doch lie­ber die Zeitung.


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