Und wenn mich einer fragte, wohin ich gehöre…
Deutsche jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg

Soldatenfriedhof St. Laurent-Blangy bei Arras (Nordfrankreich), Grab des jüdischen Soldaten Kurt Ohnstein.
Ernst Toller, Revolutionär und Schriftsteller, schreibt in seiner Autobiographie Eine Jugend in Deutschland:
»Ich denke an meine frühe Jugend, an den Schmerz des Knaben, den die anderen Buben ›Jude‹ schimpften, an mein Zwiegespräch mit dem Bild des Heilands, an die schreckliche Freude, die ich empfand, wenn ich nicht als Jude erkannt wurde, an die Tage des Kriegsbeginns, an meinen leidenschaftlichen Wunsch, durch den Einsatz meines Lebens zu beweisen, dass ich Deutscher sei, nichts als Deutscher.« (Reclam-Ausgabe, 2011, S. 228)
Begeisterung
Im August 1914 eilten die jüdischen Männer in Deutschland mit derselben Begeisterung »zur Fahne« wie alle anderen auch (und/oder mit denselben Ängsten). Viele meldeten sich freiwillig, viele wurden als Reservisten eingezogen, darunter diejenigen, die in der bayerischen oder württembergischen Armee zu Offizieren ausgebildet worden waren. Aktive jüdische Berufsoffiziere gab es zu der Zeit nicht; in der preußischen Armee standen – trotz formeller Gleichstellung – noch nicht einmal jüdische Reserveoffiziere im Dienst.
In den Zeitungen und Publikationen jüdischer Organisationen las man dieselben übersteigert nationalistischen und patriotischen Aufrufe wie überall, die selben Appelle an Opfermut und Pflichterfüllung. Allerdings – da schwang eine Hoffnung mit: dass, einerseits, dieses ultimative Bekenntnis zum deutschen Vaterland (schließlich ging es hier um Leib und Leben) angemessene Anerkennung in einer nach wie vor mehr oder weniger antisemitisch eingestellten Gesellschaft finden werde, so wie das Toller in dem obigen Zitat ausspricht. Andererseits machten sich die führenden Leute der jüdischen Gemeinde Deutschlands schon früh Gedanken darüber, wie das Engagement der deutschen Juden im und für den Krieg dokumentiert werden könne – für den Fall, dass es später angezweifelt würde.
Demütigung: Die »Judenzählung« im Herbst 1916
Die »Wir-sind-alle-Deutsche«-Begeisterung hält kaum bis ins zweite Kriegsjahr. Jüdische Soldaten an der Front werden bei Beförderungen übergangen, im politischen Alltagsgeschäft in der Heimat kommen die gewohnten antisemitischen Reflexe wieder hoch, etwa wenn es um die Ursachen der schlechten Versorgungslage geht. Den Juden wird zunehmend »Drückebergerei« vorgeworfen, obwohl das Kriegsministerium im Juli 1916 erklärt, »(…) dass die Staatsangehörigen jüdischen Glaubens ebenso zur Erfüllung ihrer Wehrpflicht herangezogen werden wie alle anderen Wehrpflichtigen.« Die durch diese Klarstellung erhoffte »Beruhigung der öffentlichen Meinung« tritt jedoch nicht ein. Im Gegenteil.
Am 11. Oktober 1916 erging vom Kriegsministerium ein Erlass, der später als »Judenzählung« bekannt wurde. Wer letztlich der Urheber dieses Erlasses war, ist schwer auszumachen. Er passte jedenfalls zu den Umtrieben einiger rechtskonservativer Reichstagsabgeordneter (mit Berufung auf die angebliche »Stimme des Volkes«) und gewisser militärischer Führungszirkel. Auf dem Deckblatt hieß es, in wohl bewusst beleidigender Formulierung:
Fortgesetzt laufen beim Kriegsministerium aus der Bevölkerung Klagen darüber ein, dass eine unverhältnismäßig große Anzahl wehrpflichtiger Angehöriger des israelitischen Glaubens vom Heeresdienst befreit sei oder sich von diesem unter allen nur möglichen Vorwänden drücke. Auch soll es (…) eine große Zahl im Heeresdienst stehender Juden verstanden haben, eine Verwendung außerhalb der vordersten Front (…) zu finden.
Bei den Frontsoldaten (und der jüdischen Bevölkerung in der Heimat) verfehlt die »Judenzählung« ihre diffamierende Wirkung nicht. Julius Marx, jüdischer Unteroffizier in einem württembergischen Regiment, schildert in seinem »Kriegstagebuch« (erschienen 1939) die Situation:
Vorhin wurde ich zum Kompagnieführer gerufen. Ein Formular lag vor ihm auf dem Tisch.
»Ja – – das Kriegsministerium – man hat dem Kriegsministerium nahegelegt – – also, es soll eben festgestellt werden, wieviele Juden sich an der Front befinden – –«
»– – – Und wieviele in der Etappe? Was soll denn dieser Unsinn?! Will man uns zu Soldaten zweiten Ranges degradieren, uns vor der ganzen Armee lächerlich machen? Man schikaniert uns, befördert uns nicht, tut aber doch entrüstet, wenn sich mancher den Krieg lieber von der Etappe aus ansieht – –!«
»Sie haben vollkommen recht, aber ich kann es nicht ändern. Wann sind Sie geboren?« – –
Pfui Teufel! Dazu hält man also für sein Land den Schädel hin – –
Die Ergebnisse der Statistik, die auch unter erheblichen methodischen Mängeln litt, blieben unter Verschluss. Nach dem Krieg wurde sie von einem bekannten Antisemiten in erwartbarer Weise ausgewertet. Die von den jüdischen Verbänden parallel geführte Statistik ergab, dass sowohl Teilnahme am Krieg als auch die Verluste der jüdischen Soldaten ihrem Anteil an der männlichen Gesamtbevölkerung entsprachen (Studie von Segall). Von 100.000, die in Heer, Marine und Luftwaffe gedient hatten, fielen 12.000. Es dauerte noch Jahrzehnte, bis diese Zahlen nicht mehr bestritten wurden. 1961 wurden sie vom damaligen Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß für die Bundesrepublik Deutschland anerkannt.
Ernst Toller wurde Anfang 1917 als »Kriegsbeschädigter unter Verzicht auf Rentenansprüche« aus der Armee entlassen.
(Weitere Informationen zum Thema Jüdische Soldaten: Literaturhinweise.)»Stolz und Liebe sind nicht eines, und wenn mich einer fragte, wohin ich gehöre, ich würde antworten: eine jüdische Mutter hat mich geboren, Deutschland hat mich genährt, Europa hat mich gebildet, meine Heimat ist die Erde, die Welt mein Vaterland.«
(Reclam-Ausgabe, 2011, S. 229)